Diese Reportage über das „Christliche Heim Abendfrieden“, ein nichtstaatliches Altersheim im Kleinbasel, erschien 1970 im Basler „doppelstab“.
Abendfrieden mit Musik und Gesang
Von Felix Feigenwinter
„Soll ich das Largo aus einer Oper von Händel spielen?“ fragt ein kleiner betagter Herr. Zuversichtlich hält er uns eine Notenvorlage zur Prüfung hin. Die sieben alten Damen, die sich in den Fauteuils und auf dem Kanapee rund ums Klavier niedergelassen haben, wollen allerdings ein Adventslied singen. Der sanfte alte Herr kehrt darum schnell zum Bücherschaft zurück und zupft ein anderes Notenheft heraus. Dann täppelt er beflissen zum Klavier, stellt die Vorlage sorgfältig aufs Notenbrett und setzt sich ans Instrument. Seine nicht mehr sehr sicheren Hände greifen in die Tasten – hie und da ertönt ein Misston, doch einige Damen, die jetzt das Lied anstimmen, haben zum Teil zittrige Stimmen, so dass das Ganze doch recht gut zusammen passt. Es wird ja auch kein perfektes Konzert angestrebt, sondern erbauliches gemeinsames Musizieren, und die glänzenden Augen der Sängerinnen und ihres Pianisten beweisen, dass der Zweck erreicht ist.
Nicht nur „Abspeisewirtschaft“
Wir befinden uns im Aufenthaltsraum des „Abendfrieden“. So heisst das einer christlichen Vereinigung unterstellte Altersheim am Claragraben 141-148. Jeden Abend treffen sich im Musikzimmer dieses Asyls viele der 24 betagten Insassen zum beschriebenen idyllischen Hauskonzert. Danach lauschen die alten Frauen und Männer erbaulichen Worten – meistens Vorlesungen aus der Apostelgeschichte oder aus Reiseberichten von Missionaren - , und besonderen Wert legt der Heimleiter Klötzli auf die freie Kommunikation, denn da können sich die alten Leutchen gegenseitig aussprechen. „Sammlung und Vertiefung suchender Seelen durch die Verkündigung des Wortes Gottes und Gebetsgemeinschaft nach Apostelgeschichte“ - so wird die in der Regel über eine Stunde dauernde Abendandacht in den Statuten der „Vereinigung Christliches Heim Abendfrieden“ umschrieben. Der Besuch dieser allabendlichen Veranstaltung ist freiwillig: „Jeder Bewohner geniesst die Freiheit, an seinen speziellen konfessionellen Bindungen teilzunehmen oder den im Haus abgehaltenen Gottesdiensten beizuwohnen“. Verwalter Klötzli ergänzt dazu: „Wir wollen keine Religion proklamieren, sondern ganz einfach geistige Werte vermitteln. Allen kann man zwar nicht dienen; durchschnittlich wird die Abendandacht aber immerhin von einem Drittel aller Heimbewohner besucht. Schliesslich wollen wir nicht nur eine Abspeisewirtschaft und Schlafgelegenheit für die alten Leute sein“.
Im „Abendfrieden“ sind also Angehörige aller Konfessionen willkommen; und auch Konfessionslose können da ihren Lebensabend verbringen, sofern sie die frommen Sprüche in den Gängen und Zimmern nicht stören.
Ein Beispiel: Die jüngste Bewohnerin dieses dank beschränkter sassenzahl angenehm familiären Altersheimes im Kleinbasel versteht unter „Geistigem“ etwas anderes als beschauliche Frömmigkeit. Der regsamen ehemaligen Hüterin einer Basler Kinokasse genügen die schönen Schriften in der Hausbibliothek nicht. Ihren Lesestoff bezieht sie anderswo. Ihre Leidenschaft gilt nämlich der Psychologie. Schon früher, als sie noch am Kinoschalter sass, las sie in den Schriften von Freud und Jung. Wie für manche der Neueintretenden bedeutete es für sie eine schwierige Umstellung, nach dem Tod ihres Mannes die ehemalige Wohnung mit dem kleinen Zimmer im Heim zu vertauschen. Vor allem, nachdem sie sich nach einer schweren Krankheit erholt hatte und sich wieder frisch und munter fühlte, war es ihr anfänglich nicht so wohl unter den friedlichen und freundlichen, aber geruh- und genügsamen Greisen.
Doch bald hatte sie erkannt, dass ihr das Leben im Altersheim manche Haushaltssorge abnahm und dass sie nun mehr Zeit für ihr Hobby – eben die Psychologie – hatte.
Und da die Hausordnung des „Abendfrieden“ jedem möglichst grosse Freiheit einräumt, beschränkt sich der Kontakt der noch unternehmungslustigen Witwe nicht nur auf ihre Hausgenossinnen und -genossen, sondern immer noch auch auf ihre Bekannten in der Stadt. Auf meine Frage, warum sie sich ausgerechnet für dieses Heim entschieden habe, hörte ich: „Es passte mir, dass man hier Einzelzimmer bekommt – das ist ja leider nicht in allen Altersheimen der Fall.Und ich kann mich auch sonst wirklich nicht beklagen: Herr und Frau Klötzli sind liebe Heimleiter“.
Doch nicht alle Bewohner wirken derart rüstig und optimistisch wie diese Gesprächspartnerin. Manche sah ich stumm und nachdenklich herumsitzen. Bei einigen machen sich Altersbeschwerden bemerkbar, die auch die Heimeltern und deren beiden Helferinnen vor Probleme stellen. So kam es wiederholt vor, dass eine vergessliche oder verwirrte Insassin ein Kleidungsstück oder Geld verlegt hatte und dann eine Person beschuldigte, dieses gestohlen zu haben. Derartige Situationen erfordern nicht nur Diplomatie, sondern auch Humor oder zumindest starke Nerven.
Pflege durch Hausarzt
Während die meisten Bewohner im Ess-Saal die von Frau Klötzli zubereitete Fischmahlzeit verzehren, besuche ich in einem Zimmer eine Greisin, die mir aus den Bettkissen entgegenwimmert: „I ha vor drei Däg e Härzinfarkt gha – i weiss-es, i bi Operationsschweschter gsi.“
Tatsächlich war diese bettlägerig gewordene Heimbewohnerin früher in einem Spital Operations-Oberschwester gewesen – und jetzt liegt sie selber alt und hilflos klagend im Bett. Ein Schicksalsdrama, wie es Herr und Frau Klötzli und die beiden im Heim helfenden Mädchen nicht selten erleben. “Alle unsere kranken Insassen werden von unserem Hausarzt versorgt“, versichert Herr Klötzli.
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Aus den Statuten der Vereinigung „Christliches Heim Abendfrieden“
"Die Leitung bezweckt im wahren Sinne des Wortes einen Dienst am Volke zu tun, speziell an solchen Personen, die keine Angehörigen oder Verwandte mehr haben.“
"Der Verein hat zum Zweck: Die Verbreitung des Wortes Gottes des alten und neuen Testamentes.“
"Im übrigen steht das Christliche Heim Abendfrieden völlig auf neutralem Boden und ist von jeder konfessionellen oder religiösen Bindung frei.“
"Die Mitglieder sind zu keinen Beiträgen rechtlich verpflichtet. Die Kasse des Vereins wird durch Opfer, freiwillige Beiträge und Legate gespiesen.“
Der Tagestarif im Heim Abendfrieden beträgt 15 bis 18 Franken. Die Heimleiter Herr und Frau Klötzli beziehen als Lohn je 700 Franken monatlich (Kost und Logis gratis). Als Hilfe stehen ihnen zwei ungelernte Mädchen zur Verfügung, die mit einem kleinen Lohn entschädigt werden.