Mittagspause
Von Felix Feigenwinter
Kurt steht vor dem Klo und äugt durch das offene, vergitterte Fenster in einen Hinterhof. Zwei graue, bröckelnde Hausfassaden und eine Backsteinmauer recken sich zum hier kaum spürbaren Julimittag. Am Boden des Schachts häuft sich allerhand Unrat. Mücken und Fliegen umschwirren eine Reihe prall gefüllter Müllsäcke; ein Haufen weggeworfener Bierteller hat den Gewitterregen der vergangenen Nacht aufgesaugt.
Wenn Kurt auf das Klo steigt und den Kopf zwischen die Gitterstäbe presst, kann er links zwei übereinanderliegende Fenster sehen. Das untere, vergitterte, ist verschlossen. Die Mattscheiben verbergen die Küche des Wirts, der Kurt seit Anfang des Monats das Zimmer vermietet, in welcher die Bürohilfskraft nach einem Imbiss an einer Stehbar seine Mittagspause verbrachte; Kurt versuchte, sich auf seinem Bett ein Stündchen auszuruhen. Nun vermeint er undeutlich das Scheppern von Geschirr und Geplauder italienischen Küchenpersonals zu vernehmen, das wahrscheinlich durch den Ventilator im rechten, oberen Fenstereck dringt.
Das obere Fenster steht offen, aber ein zur Hälfte gezogener blauer Plüschvorhang verhindert den Einblick in diese Schattenwohnung. Ein üppiger hoher Strauss dunkelroter Rosen - Kurt fragt sich, ob es künstliche Blumen seien - verdeckt die durch den schlappen Plüsch nicht verhängte Öffnung; aus der Kammer tönen seltsam harte und zugleich melancholische Klavierklänge. Kurt horcht in den Schacht hinauf.
Nach einer Weile spült er. Dann geht er durch den Hausgang und tritt auf die Strasse. Die Glocke einer Turmuhr schlägt viertel nach eins. Spätestens um zwei Uhr beginnt seine Arbeit im Büro.
Heute Morgen hatte Kurt das Zimmer später verlassen, als er beabsichtigt hatte. Vergeblich hatte er versucht, aufwühlende Traumbilder in den Wachzustand hinüberzuretten. Es blieb nur kitzelnde Unruhe zurück. Das einzige, was er fassen konnte, war der kaputte Wecker, den er vom Boden unter dem Bett aufgelesen hatte. Er musste ihn während eines Traums vom Nachttisch gefegt haben. Daran erinnert er sich unscharf. Den Verlust bedauert er kaum. Die Weckuhr hatte ihn mehr geärgert als gefreut. Ihr Ticken war ihm auf die Nerven gegangen; manchmal bekundete er Mühe, einzuschlafen. Zuweilen hatte er sie kurzerhand in die Nachttischschublade verbannt. Morgens hatte er sie oft genug verwünscht, wie die ratternden Pressluftbohrer, mit denen die Strassen der Stadt von Zeit zu Zeit aufgerissen werden, damit neue Leitungen gelegt oder alte geflickt werden können.
Daran denkt er, als er die erste Strassenbahn besteigt, die an der Stelle hält, wo er wartet. Nach vier Stationen müsste er aussteigen, um an den Arbeitsplatz zu gelangen. Er bleibt sitzen. Mit dem Tram erklimmt er den Hügel westlich der Stadt. Statt über Schotter, auf dem die Schienenschwellen am steilen Hang lagern, gleitet der Tramwagen plötzlich über einen sanften Grasteppich. Das verleiht der Fahrt etwas Diskretes, geradezu Beruhigendes. Überhaupt wirkt hier oben manches apart. Die Licht- und Schattenverhältnisse gestalten Einfamilienhäuser, Gärten und Spazierwege zu einem Ort, durch den sich Menschen jenseits der Zeit- und Raumgrenzen zu bewegen scheinen. Auch die Aussicht auf die umliegenden Täler vermittelt den Eindruck traumhafter Entrücktheit. Die in der Tiefe sich ausbreitende Stadt scheint nah genug, um die in sanfter Höhe wohnenden Menschen daran zu erinnern, dass sie zu ihr gehören - doch auch wieder so weit entfernt, dass sich die Hügelbewohner von ihr distanzieren können, wann immer sie das Bedürfnis haben, in Ruhe gelassen zu werden. Das ganze Quartier erweckt den Eindruck eines Riesensanatoriums. Im Zentrum erhebt sich ein Wasserturm, den früher Selbstmörder bestiegen hatten. Seitdem der Aussichtsbalkon mit einem Schutzglas versehen ist, scheint diese Möglichkeit vereitelt. Kurt besteigt den Turm. Aus der Vogelperspektive sieht er in einen Wirtshausgarten, wo ein Mann vor einer leeren Glasstange sitzt und mit einem Bierteller eine Pirouette auf der Tischplatte dreht. Im angrenzenden Garten befestigt eine Frau farbige Kinderkleider an den Schnüren eines Wäscheständers; bereits aufgehängte weisse Leintücher blenden im Sonnenlicht.
Kurt hört eine Glocke schlagen. Es wird viertel vor zwei sein, vielleicht schon zwei. Die Leute im Büro werden sich fragen, wo er denn steckt. Sie werden sich ärgern, sich kritisch äussern oder vielsagend schweigen; einer wird ihn vielleicht beneiden. Kurt späht über den Häuserbrei in die Tiefe, aus der sich rauchende Schlote recken, zu einer Bergkette über einer dunstigen Ebene. Am Horizont türmen sich Wolkengebilde; dahinter gleisst der Sonnenball
Ja, wo steckt er denn eigentlich?
(Erschienen in der Ciba-Geigy-Zeitung, 6. Oktober 1981)