Eine wilde Nacht

Von Felix Feigenwinter

 

Lukas Lichtenhahn war ein ruhiger, stiller Mensch. Dass er von Gaudenz Vogel je angesprochen, gar verführt und eingewickelt würde, hätte er selber nie gedacht. Denn mit dem eitlen, vergnügungs- und geltungssüchtigen Millionenerben und Gemäldesammler, der als Paradies-Vogel stadtberüchtigt war, hatte er, der introvertierte, eher aus Neigung als aus Not sparsame und sorgfältige Angestellte in der Universitätsbibliothek, nichts im Sinn.

Dieser Mann war ihm zu schrill, zu egozentrisch, in einer unerträglichen Weise aggressiv, als dass er sich zu ihm hingezogen gefühlt hätte. Vogel hatte, wie Lichtenhahn wusste, Kunstgeschichte studiert, bevor er sein Millionenerbe angetreten war, das er nun schamlos verschwendete  - ganz entgegen den Gewohnheiten der  Bürger aus den alteingesessenen reichen Familien, die ihren Besitz mit grösster Diskretion und puritanischer Sparsamkeit verwalteten. Vogel war ein Zugezogener, kein Bürger dieser Stadt, noch nicht; aber fast täglich erschien sein Name in der Klatschpalte einer Regionalzeitung; er war eine schillernde Figur, über die in der Oeffentlichkeit getuschelt wurde.    

Dieser Vogel  sei für ihn nur aus der Distanz geniessbar, hatte Lichtenhahn einmal einem anderen introvertierten Gast im Restaurant Kunsthalle anvertraut, wo er manchmal  - keineswegs häufig -  abends ein Weinchen genoss. Und lange Zeit schien es, als ob die Abneigung gegenseitig sei. Denn Vogel, der fast täglich in der Kunsthalle auftauchte, um irgendwelche unternehmungslustige Damen und Herren aufzureissen und zu irgend einer Vernissage, zu einer Party oder zu einem anderen gesellschaftlichen Ereignis zu entführen, schien dem Bibliothekar auszuweichen, wohl eher instinktiv als bewusst. Sonst hätte er ihn im Verlauf der vielen Jahre, seit sich ihre Wege im Restaurant Kunsthalle  kreuzten, gelegentlich einmal angesprochen. Als euphorischer Kommunikator schien er  keine Hemmungen zu kennen. Doch Lichtenhahn hatte er, ganz zu dessen Zufriedenheit, bisher stets in Ruhe gelassen.

Das änderte sich an einem Herbstabend, an dem Lichtenhahn gleich nach der Arbeit die Kunsthalle aufsuchte, um dort zu Abend zu essen, weil er anschliessend in einem nahen Kino einen besonderen Film ansehen wollte. Es war ein Montagabend, noch früh, im Restaurant sassen nur wenige Gäste, und als Lichtenhahn, der soeben den Tageslunch und ein Weinchen bestellt hatte, Gaudenz Vogel allein ins Lokal hineinstürmen sah, war ihm unbehaglich zumute. Es geschah, was er befürchtete: Der Neuankömmling steuerte, nachdem er vorerst offenbar ergebnislos die  Tische nach möglichen "Opfern"  abgesucht hatte,  unverhohlen auf Lichtenhahn zu, setzte sich, ohne sich zu erkundigen, ob ihm seine Anwesenheit angenehm sei, wie ein altvertrauter Kumpel zu ihm  und rief dem Kellner, der dem Stammgast  beflissen entgegeneilte, gut gelaunt seine Bestellung entgegen.

Vogel, der sich, wie der Bibliothekar wusste,  auch als Kunstmäzen verstand, schwafelte allerlei, und er erzählte Lichtenhahn, der immer noch am Tageslunch herumkaute, er habe gestern zwanzig  Bilder von einem von ihm entdeckten Künstler namens Schmid gekauft.

"Von Schmidt-Rottluff?" fragte der immer noch aufs Essen konzentrierte Lichtenhahn, damit er auch etwas zur Unterhaltung beitragen konnte.

"Nein, natürlich nicht!" ereiferte sich Vogel, "doch nicht von diesem längst verblichenen deutschen Expressionisten! Nein, Schmid ist ein Schweizer Maler! Sensationell! Ein Naturtalent, ein Genie!"

Lichtenhahn kannte einen Künstler  Schmid, der vor vielen Jahren die Informationstafeln im Zoologischen Garten mit Tierzeichnungen versah. Aber er nahm nicht an, dass sich Vogel Tierbilder von diesem  Schmid angeeignet hatte und meinte deshalb ein wenig verärgert:

"Wie heisst er denn, Schmid - wie ist sein Vorname?"

"Isidor Schmid" erklärte Vogel salbungsvoll, "Isidor Schmid! Man muss sich diesen Namen merken. Ein ganz Junger noch, ein Maler mit Zukunft!"

Da Lichtenhahn nichts mehr sagte, sondern mit der Serviette über seinen Mund strich, da er das Essen beendet hatte und nach dem Kellner winkte, insistierte Vogel:

"Schmids Bilder sind in meiner Wohnung - die ist nur fünf Minuten von hier. Komm mit mir, ich zeig sie dir. Du wirst staunen!"

Lichtenhahn ärgerte sich über Vogels Anmassung, ihn (ohne ihn genau zu kennen) selbstverständlich  für einen Kunstliebhaber zu halten, auch über seine Unart, ihn ungefragt zu duzen (Lichtenhahn war  entschlossen, Vogel weiterhin beharrlich zu siezen), aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass bis zur Kinovorstellung noch genügend Zeit blieb, um Vogels offenbar in der Nähe befindliche Wohnung aufzusuchen; vielleicht war es eine einzigartige Möglichkeit,  die Höhle dieses legendären Salonlöwen zu besichtigen, wozu der Bibliothekar nun plötzlich doch Neugier verspürte.

So folgte er dem Kunstsammler etwas widerwillig, aber auch ein wenig  abenteuerlich gestimmt, und geleitete ihn in dessen Heim, ein frisch restauriertes Jugendstilhaus, wo, wie er bald konstatierte, neben beachtlichen Originalgemälden vor allem aus dem Zwanzigsten Jahrhundert auch etliche Lampen, Vasen und Möbelstücke aus der Zeit des einst so verpönten und inzwischen rehabilitierten Jugendstils zu besichtigen waren. Zwei der frisch erworbenen Schmid-Bilder waren bereits aufgehängt, die restlichen standen  in drei verschiedenen Räumen  am Boden an die Wände gelehnt.

"Nun, was sagst du? Schau sie dir an! Habe ich übertrieben?" triumphierte Vogel.

Lichtenhahn mochte seine Begeisterung nicht ohne weiteres teilen und meinte spröde: "Ich möchte sie mir sorgfältig anschauen, sie in Ruhe auf mich wirken lassen."

Vogel winkte ungeduldig ab und betrat eine Wendeltreppe; während er dort hochkletterte, rief er:

"Bediene dich! Meine Bar steht zu deiner Verfügung! Ich komme gleich wieder, ich möchte nur schnell eine Dusche nehmen. Ich fühle mich so abgekämpft, verschwitzt." Er schien mehrmals täglich zu baden. Er verschwand oben auf der Treppe; bald hörte Lichtenhahn ein Wasserrauschen, schnupperte  exotische Düfte. Nach einer Weile erschien Vogel nackt, nur flüchtig mit einem Badetuch bedeckt,  wieder auf der Wendeltreppe, huschte am Bibliothekar vorbei.

"Hast du die Bilder jetzt betrachtet? Dein Urteil?" rief er aus dem Nebenraum, wo er sich offenbar neu einkleidete.

 "Es sind kraftvolle, wilde Bilder", antwortete Lichtenhahn.

 "Wilde Bilder!" wiederholte Vogel, "mit ungestümer Gestaltungskraft hingeworfen! Stell dir vor, welches Potenzial in diesem jungen Maler steckt! Er wird noch Aufsehen erregen!"

Vogel trat nun duftend und elegant in einem lila und schwarzen Seidenkleid vor seinen Gast und steckte sich einen grossen Goldring mit kunstvoller Fassung und einem funkelnden Rubin  an den linken kleinen Finger; an seiner Brust hing ein kultisch wirkendes Amulett, eine archaische, nackte Frauenfigur.

 "Und jetzt stürzen wir uns in die wilde Nacht!" verkündete er, "du bist mein Gast!"

Als Lichtenhahn einen prüfenden Blick auf seine Uhr warf, gewahrte er zerknirscht, dass er den Beginn der Kinovorstellung bereits verpasst hatte. Ein wenig resigniert und mit gemischten Gefühlen folgte er dem Millionär, gespannt, wohin ihn dieser nun führen werde.

In einem als distinguiert geltenden Dancing, wo sie noch vor Einbruch der Dunkelheit einkehrten, mokierte sich Vogel über die an der eleganten Bar sich mit südamerikanischen Animiermädchen vergnügenden Herren von offensichtlich gehobenem sozialem Status. "Geiles Konsumpack!" zischte er zu Lichtenhahn, was diesen wunderte. Der Bibliothekar konnte sich nicht verkneifen, zu fragen, ob er sich nicht selber als "konsumgeil" einschätzen müsste, wenn er sich als Aussenstehender beobachten könnte, wie er mit Teresa, einer brasilianischen Striptease-Tänzerin, die Vogel offenbar schon lange kannte, eine Flasche Champagner kippte. Vogel verneinte energisch.  

"Dich halte ich ohnehin nicht für konsumgeil", erklärte er jovial. "Was mich betrifft, so spiele ich dieses Theater nur mit, um es ad absurdum zu führen. Ich inszeniere hier mein eigenes Stück. Ich suche die metaphysische Dimension! Komm, wechseln wir die Bühne..."

Auf dem Weg in einen anderen Stadtteil, wo sie bald ein verrauchtes Lokal betraten, in dem vorherrschend proletarisches Publikum zu verkehren schien, schwadronierte der sich zum Dandy entfaltende trunkene Kunsthistoriker über die Unterschiede der diversen Nachtlokale und ihrer Kundschaft.

"Was auffällt", analysierte Lichtenhahn trocken, "dass sich das Angebot käuflicher Erotik und Sexualität mittels Ware Frau durch alle sozialen Schichten unserer Gesellschaft zieht. Ob im noblen Dancing, wo die Erfolgreichen und Reichen verkehren, die den Strip-tease-Tanz als künstlerische Inszenierung erleben, die auftretenden Tänzerinnen aber handkehrum als gewöhnliche Prostituierte beanspruchen, oder im vulgären Tingeltangel - es dreht sich doch immer nur um das Eine..."

Vogel beharrte darauf, anders zu sein als die anderen. Wie mit Teresa, der Brasilianerin im Nobeldancing, pflegte er auch mit dem thailändischen Mädchen, das ihn in der wenig eleganten, ja schäbig wirkenden Go-Go-Bar mit ausschliesslichem Männerpublikum ansprach, zärtliche Kommunikation, was wiederum mit erheblichem Champagnerkonsum verbunden war. Vogel zelebrierte, nicht ohne Eitelkeit, einen Kult des Respekts, was in dieser Umgebung irritierte, wo ordinäre Sprüche und Gesten an der Tages- beziehungsweise Nachtordnung waren. Die hier arbeitenden Animiermädchen hatten sich offenbar längst damit abgefunden, von ihren "Mietern" mit plumpen Beleidigungen verhöhnt und grob betatscht zu werden, so dass eine sich feiner gebärdende Figur besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Gaudenz Vogel trat schon fast wie ein Erlöser auf, und er schien diese Rolle zu geniessen.

"Sie schöpfen Ihre Privilegien aus, Herr Vogel. Sie befriedigen Ihre Bedürfnisse, indem Sie schöne, arme Frauen bezahlen", stänkerte Lichtenhahn. "Würden diese jungen Frauen auf Sie eingehen, wenn Sie ein Kerl ohne Geld wären? Doch wohl kaum!"

"Jetzt fehlt nur noch, dass du feststellst, ich sei ein skrupelloses kapitalistisches Schwein!" erwiderte Vogel. "Ich kann nur wiederholen: ich gehöre nicht zu denen, die du jetzt meinst!" Damit schien dieses Thema für ihn erledigt.

In der Spelunke, wohin sie nun weiter gingen, warteten afrikanische Frauen, die ihr Kommen mit lebhaftem Palaver kommentierten. Wie die Angehörigen einer Sippe von ihren Schwestern, Tanten und Müttern wurden die beiden Anömmlinge unter Gezeter und Gelächter mit Küssen und Umarmungen begrüsst. Vogel spendierte für alle Champagner, es wurde ein warmes Essen aufgetischt, an dessen Verzehr  ausser Lichtenhahn, der keinen Hunger verspürte, sich alle beteiligten, es wurde wild getanzt (sogar Lichtenhahn, bisher eher passiv, mischte sich unter die Tanzenden), und schliesslich hing Vogel an der entblössten Brust einer schwarzen Supermama; er war zum Säugling regrediert.

Der nächste Abstecher galt einem Lokal mit durchmischtem Publikum - man sah auch Frauen unter den Gästen - , wo Vogel von Damen aus der Karibik umschwärmt wurde; auch ihnen schien er als besonderer Gast bereits vertraut zu sein. "Der Priester, der Priester" hatte eine der Damen aufgeregt gerufen, und es wurde Lichtenhahn schnell klar, dass Vogel hier offenbar als selbsternannter Priester auftrat, der die Frauen feierlich segnete und eine kultische Schau abzog, an die er selbst zu glauben schien. Wieder strömte Champagner, und Vogel trank ihn feierlich wie aus einem Messkelch.

Als Lichtenhahn merkte, dass es den Millionär weitertrieb in die nächste Spelunke, dass er  nicht zur Ruhe kam und wohl bis zum Morgengrauen ruhelos herumziehen würde, bis er vielleicht in einer Umarmung Befriedigung finden würde, beschloss er, sich zu verabschieden. Mitternacht war längst vorbei, Lichtenhahn hatte genug gesehen, er fühlte sich dösig und war nicht länger bereit, den dekadenten Geniesser länger zu begleiten bei dessen wahnhaften Herumtreiben.

Er verabschiedete sich gähnend, bedankte sich für die spendierten Getränke und die gebotenen Erlebnisse, und er schnappte sich ein Taxi, mit dem er zu seiner Wohnung fuhr.

Daheim, auf dem Bett liegend, vor dem Einschlummern, versuchte er kopfschüttelnd auszurechnen, wie viel Geld Vogel in den wenigen Stunden, während welchen sie zusammen waren, ausgegeben hatte und wie viel er diese Nacht noch verschleudern würde. Vogel war  ein Alkoholiker, ein Suchtkranker, und falls er in diesem Stil weiterlebte, würde sein Ende  bitter sein; sein baldiger gesundheitlicher Ruin würde nicht aufzuhalten sein, überlegte Lukas Lichtenhahn.

Und er wunderte sich, dass ihn der verschwenderische Irre derart hatte manipulieren können, "denn eigentlich bin ich doch nicht labil", sagte er laut vor sich hin.  Nun würde er, so schätzte er, einen ganzen Tag und eine Nacht benötigen, um sich von dieser Ausschweifung  erholen zu können. Er war gestern Abend wohl einfach zu unachtsam gewesen; ein zweites Mal würde ihn  Vogel nicht mehr einspannen können, da war er sich sicher. Mit dieser Gewissheit versank Lichtenhahn in einen tiefen, traumlosen Schlaf.  

Diese Geschichte wurde 2006 geschrieben aufgrund eines Entwurfes aus dem Jahr 1994.