"doppelstab" 8. Dezember 1970

Lebensabend zwischen Uten- und Rebgasse

Von Felix Feigenwinter

Als ich ins Altersasyl "zum Lamm" telefonierte, um einen Besuch zu vereinbaren, hiess es, ich solle doch bitte wieder in drei Tagen anrufen - der Verwalter sei gegenwärtig mit dem Ausfüllen der Formulare für die Volkszählung beschäftigt. Drei Tage später kam zwar eine Begegnung zustande; aber Hausvater Hermann Engeler sass in seinem Büro an der Rebgasse 16 noch immer hinter den Listen für die Volkszählung. Als Verwalter eines Heimes mit 67 Insassen und elf Hausangestellten hat er es eben nicht so einfach wie ein gewöhnlicher Haushaltungsvorstand.

Ein Drittel Fürsorgefälle

Ein ganzes Drittel der grösstenteils betagten "Lamm"-Bewohnerschar setzt sich aus Fürsorgefällen zusammen - also aus Frauen und Männern, die armengenössig sind.

Und bei den meisten, die zu den beiden finanziell besser gestellten Drittel gehören, "reicht es auch nur haarscharf", wie es Hermann Engeler ausdrückt: "Wenn wir im Tag einen Frankern aufschlagen würden, würden viele von diesen zwei Dritteln auch schon zu den Fürsorgefällen gehören". Der "Normaltarif" beträgt 15 Franken pro Person im Tag; Diabetiker zahlen einen Franken mehr (für die spezielle Kost). Das "Sackgeld" richtet sich nach den persönlichen finanziellen Verhältnissen; eine Insassin oder ein Insasse, die oder der eine Pension beziehen kann, fährt natürlich besser als ein Heimbewohner, der nur eine AHV-Rente beziehungsweise eine kantonale Fürsorgerente von 210 Franken im Monat zugute hat. Diesen Armen wird ein Minimal-Sackgeld von zehn Franken in der Woche ausgehändigt. Das reicht dann gerade so für ein Bier oder einen Kaffee, oder für eine kleine Schokolade oder zwei Zeitungen im Tag.

Punkto Essen kommen die Insassen des "Lamms" freilich nicht zu kurz. Verwalter Engler berichtet sogar, dass viele zu viel essen würden und daher Übergewicht hätten, was ihrer Gesundheit nicht immer zuträglich ist. Aber: "Wir geben ihnen deswegen nicht weniger, sonst heisst es noch, wir seien geizig. Wir sagen ihnen nur, es sei nicht gesund, sich so vollzustopfen - mehr können wir nicht tun".

Anhand einer Aufstellung orientieren sich die Hauseltern und das Personal, wer welche Medikamente einzunehmen hat. Die Aufstellung ist sehr umfangreich und differenziert. Neben "normalen" Altersbeschwerden machen sich bei einigen die Folgen von Alkoholismus bemerkbar. Bei drei Männern rächt sich das Kettenrauchen: sie spüren die Arterienverengungen. Dazu Engler: "Die Beine sterben ihnen ab, sie können nur noch drei Schritte weit gehen." Doch solange sie nicht dauernde Pflegehilfe benötigen und noch Lust zum Aufstehen verspüren, bleiben sie im Altersheim.

Attraktives "Fensterlen" - Baulärm keine Störung

Was machen die alten Leutchen tagsüber? In einem - sehr düsteren - Arbeitsraum können einige von ihnen zum Beispiel für eine Matratzenfabrik Rosshaar zupfen. In verschiedenen Aufenthaltsräumen - auch sie von zum Teil kaum zu überbietender Trostlosigkeit - wird gelesen, geschwatzt oder einfach vor sich hingedöst. Auf die individuellen Eigenarten und Bedürfnisse wird nach Möglichkeit Rücksicht genommen - so gibt es sowohl ein "Rauchzimmer" als auch ein Aufenthaltsraum für Nichtraucher. In einem mit "Frauensäli" angeschriebenen Raum sehe ich zwei alte Damen "Eile mit Weile" spielen, und die Anwesenheit zweier Männer - daunter des ältesten Einwohners von Basel - beweist, dass die Bezeichnung dieses Treffpunkts nicht als Massnahme zur Geschlechtertrennung aufzufassen ist. Beliebt ist aber auch das "Fensterlen", denn der Betrieb draussen auf der Gasse bietet Unterhaltung.

Auch den demnächst beginnenden Abbruch von Nachbarhäusern und den darauf folgenden Bau eines neuen Warenhauses an der Rebgasse schätzt der Verwalter als eine Attraktion für die "Lamm"-Bewohner ein: "Die Alten haben es gern, wenn etwas läuft und sie zuschauen können", meint er, "und was den Baulärm angeht, so hören diesen die meisten alten Männer und Frauen gar nicht, weil sie schwerhörig sind."

"Wie im Zirkus"

Als einen beliebten Aufenthaltsort vieler Lamm-Insassen hat sich das benachbarte Warenhaus "Rheinbrücke" erwiesen. Engler: "Für unsere Alten ist das ideal, denn sie müssen, um das Warenhaus zu besuchen, nicht einmal die Strasse überqueren. Für sie ist der Aufenthalt in der 'Rheinbrücke' fast wie im Zirkus; da ist etwas los, und das gefällt ihnen. Einige von ihnen verbringen da den ganzen Tag." Ein alter Mann setzte sich täglich in einen Fauteuil in der Möbelabteilung, wobei er jeweils einschlief. Eine auf den Schnarchenden aufmerksam gewordene besorgte Verkäuferin fragte Hermann Engler an, ob denn die "Lamm"-Bewohner so früh aus den Betten müssten. Verwalter Engler konnte sie beruhigen; das Frühstück ist auf acht Uhr angesetzt.

Fritz darf keine Uniform tragen

Wie schon erwähnt, wohnen im "Lamm" aber nicht nur Betagte. Das Altersasyl im Kleinbasel beherbergt zurzeit auch zehn geistig behinderte jüngere Menschen, die zum Teil einer geregelten Arbeit, zum Beispiel in der Webstube, nachgehen. Der erste "Webstübeler", der im "Lamm" Aufnahme fand, war Fritz; er kam schon im Jahr 1949 zusammen mit seinem Vater ins Heim, nachdem seine Mutter gestorben war. Inzwischen hat er auch seinen Vater verloren und ist selber ein alter Mann geworden. Er trägt gerne zwei kleine Puppen mit sich, die ihm jemand Verständnisvoller geschenkt hat und mit denen er spielt. Leider bringen nicht alle Leute Verständnis für diese harmlose Neigung des "greisen Kindes" auf; auf der Strasse wurde Fritz wegen der beiden Puppen auch schon verspottet. Deshalb hat ihn der Hausvater Engler jetzt dazu erzogen, dass er die beiden Püppchen jedesmal im Büro abgibt, bevor er das Asyl verlässt. "Schon früher musste ich ihm leider wehtun, indem ich ihm alte Uniformen, die ihm Polizisten und Trämler geschenkt haben, wegnehmen musste." Fritz hatte diese angezogen und sich dergestalt in der Stadt gezeigt. Da gab es Leute, die auf ihn zeigten und sagten: "Solche Leute sind bei der Basler Polizei" oder: "Solche Leute sind beim Tram". Zum Glück gibt es aber auch immer wieder Menschen, die Fritz und seinesgleichen mit Nachsicht und Liebe begegnen, wie die Hauseltern im "Lamm".

"Frauenabteilung - kein Aufgang für Männer"

Diese Aufschrift lese ich an einer Wand neben einer Treppe, die ins dritte Stockwerk führt. Herr Engler versichert, zarte Liebesaffären seien gang und gäbe unter den alten Leutchen - das Schild soll den Kontakt zwischen Greisinnen und Greisen nicht verhindern. Vielmehr erinnert es an die baulichen Unzulänglichkeiten dieses allzu altertümlich gewordenen und sehr renovationsbedürftigen Heimes: Die Männer sollen diese Treppe nicht besteigen, weil oben im Gang die alten Frauen zum Waschraum, der sich in der Toilette befindet, gehen müssen und Hemmungen hätten, wenn da Männer zuschauen würden.
 

Weitere Unzulänglichkeiten: In den wenigsten Zimmern hat es fliessendes Wasser; Einzelzimmer sind eine Rarität, so dass sehr viele Insassen ihren Lebensabend in einem gemeinsamen Schlafraum verbringen müssen; wegen fehlenden Lifts müssen die Bewohner Treppen steigen - was nicht mehr alle können. Deswegen stehen in den oberen Stockwerken Zimmer frei, trotz Platzmangels.
 

Neubau geplant, aber noch unsicher

Das Altersasyl "zum Lamm" zwischen der Utengasse und Rebgasse im Kleinbasel gehört der Allgemeinen Sozialhilfe (früher Allgemeine Armenpflege), die privaten Vereinscharakter hat, aber seit der Einführung des Gesetzes über öffentliche Fürsorge von 1960 unter staatlichem Einfluss steht. Dank Spenden von privater Seite und von Fimen konnte das "Lamm" bisher existieren, ohne die staatliche Defizitgarantie in Anspruch nehmen zu müssen. Für den seit Jahren geplanten, aber immer wieder verzögerten und auch heute noch nicht beschlossenen Um- beziehungsweise Neubau müssten allerdings Staatsgelder zur Verfügung gestellt werden, denn die Allgemeine Sozialhilfe als Eigentümeruin verfügt über kein Eigenkapital.