Blockzeit

von Felix Feigenwinter
 

Fred sass hinter dem Personalcomputer und betrachtete durchs Fenster die Dächer der gegenüberliegenden Häuser. Sein Staunen galt dem Phänomen, dass Schnee nur noch das Dach eines einzigen Hauses bedeckte, bis ihm einfiel, dass dort die Fensterläden seit Monaten geschlossen waren. Das Haus schien seit langem unbewohnt, und das war wohl der Grund, warum der Winter das Giebeldach noch immer belagerte; offensichtlich war nie mehr geheizt worden, keine Wärme unter dem Dach trieb die Schneeschmelze an.

Christs Anwesenheit nahm er erst später wahr, als er ein Räuspern vernahm, das ihn erschreckte und seine Beschaulichkeit zerstörte. Er fragte sich, wann Christ das Büro betreten habe. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, das Geräusch der sich öffnenden Tür bemerkt zu haben. So vermutete er, der Abteilungsleiter sei vor etwa zehn Minuten ins Büro gekommen, als Frau Erhart zur viertelstündigen Morgenpause aufgebrochen war; dann hätte ihn Christ während Minuten heimlich beobachtet, wortlos hinter ihm stehend. Fred wagte nicht, sich vorzustellen, wie er sich während dieser Zeitspanne verhalten habe. Meistens riss er, nachdem die durchzugsgefährdete Frau Erhart in Richtung Aufenthaltsraum im Korridor verschwunden war, das Fenster auf, und er zündete eine Zigarette an, deren Rauch er gierig einsog, ruhelos im Büro hin- und herwandernd, wie ein gefangenes Tier. Die Gier, die ihn in Abwesenheit der Nichtraucherin Frau Erhart täglich erfasste, war unbändig. Heute hatte er nicht geraucht, weil er am frühen Morgen, auf dem Weg zum Verwaltungsgebäude, vergessen hatte, Zigaretten zu kaufen. Anders als sonst war er am Pult sitzengeblieben, sonst wäre ihm Christs Anwesenheit aufgefallen. Ein Fensterflügel stand freilich offen; den herbeiströmenden Wind hatte er wie ein erfrischendes Bad genossen; der Schein der Frühlingssonne glitzerte, und vom Dach des unbewohnten Nachbarhauses tropfte Schneewasser in die Pflanzenrabatten, wo Amseln die Erde bepickten.

"Haben Sie um elf Uhr Zeit?" fragte Christs Stimme. Sie tönte wie üblich gesiebt, von emotionellen Spuren vollständig gereinigt, wirkte gleichförmig, unbewegt. Fred bejahte; Christs Erkundigung konnte nur rhetorisch gemeint sein, war somit hämisch. Aber die Schadenfreude, die ihr zugrunde lag, war nicht zu denunzieren - oder hätte Fred erwähnen sollen, elf Uhr sei innerhalb der Blockzeit; er müsse heute morgen weder zum Arzt noch zu einer Beerdigung eines nahen Verwandten (andere Verrichtungen ausserhalb des Verwaltungsdgebäudes waren für ihn während der Blockzeit nicht vorgesehen; Dienstreisen, wie Kaderleute ihre Ausflüge während der Blockzeiten deklarierten, blieben für gewöhnliche Angestellte unerreichbar; diese hatten hinter ihren Personalcomputern zu verharren, seit der Einführung der Zweiundvierzigstundenwoche mit einem Unterbruch von zweimal fünfzehn Pausenminuten während täglich achteinhalb Stunden, inbegriffen die Kompensationszeit für verlängerte Wochenenden an Ostern und Pfingsten). Fred antwortete kurz, korrekt, mit einem Beben in der Stimme; seine Empörung über Christs bewusste oder unbewusste Perfidie versuchte er wie alle Empfindungen persönlicher Art zu verbergen, und er nickte scheinbar beflissen, nachdem Christ erklärt hatte: "Man erwartet Sie zu einer Besprechung im kleinen Sitzungszimmer". Vielleicht hätte Christs Gesichtsausdruck nähere Hinweise gegeben, ein maliziöses Lächeln etwa, oder eine forciert starre Maske, aus deren Oeffnungen die Bosheit zuckte.Aber Fred sah immer noch durchs Fenster, bemerkte zwei Männer in blauen Uebergewändern und mit roten Hüten, die ein angerostetes Metallrohr über die Pflanzenrabatten schleppten, und er erinnerte sich an eine interne Mitteilung der Geschäftsleitung, wonach "schneller als erwartet mit den Installationen für Probebohrungen im Hinblick auf den Neubau begonnen" werde; es sei vorgesehen, an drei bis vier Stellen hinter dem Verwaltungsgebäude Bohrlöcher für Bodensondierungen zu erstellen. Leider sei mit Lärmimmissionen und zeitweise mit Einschränkungen der Parkierungsmöglichkeiten zu rechnen; man erwarte selbstverständlich, dass der Arbeitseinsatz dadurch nicht beeinträchtigt würde. Als sich Fred endlich umsah, hatte der Abteilungsleiter in seinem Rücken das Büro bereits verlassen; Fred schloss den Fensterflügel und setzte sich auf den Sessel zurück.

Kurz, nachdem Frau Erhart von der Pause zurückgekehrt war, durchdrang ein metallenes Klopfen das Schweigen im Büro, verdeckte das Klappern der Computertasten. Die Korrektheit der Kollegin verband sich nahtlos mit der Leidenschaftslosigkeit, welche die Büroräume durchspannte, sicherte den vorgeschriebenen Umgang zwischen den angestellten Menschen, die austauschbar schienen. Der Lärm der Sondierungsbohrung vermochte Frau Erharts Verhalten auch nicht zu ändern, und nach einer Weile sah Fred auf die Uhr und sagte, um elf Uhr müsse er zu einer Besprechung im kleinen Sitzungszimmer, und er erhob sich und schickte sich an, das Büro zu verlassen; dabei streifte sein Blick Frau Erhart, in deren Gesicht er geduckte Abwehr las, ja Zeichen nur mühsam unterdrückter Angst.

Als er das Sitzungszimmer erreichte, fand er es menschenleer. Er beschloss, Geduld zu üben und hielt es für angemessener, stehend oder herumgehend statt sitzend zu warten. Seine unbestimmte Bange versuchte er zu mildern, indem er, ähnlich dem Besucher einer Kunstgalerie, einer Wand entlangschlenderte, um ein dort aufgehängtes Oelgemälde aus der Nähe zu betrachten. Er sah die Darstellung einer Parkanlage, eine glühende Sommerlandschaft mit erregenden Ausblicken, eine leidenschaftliche Expression, zu der keine Büroseele fähig schien. Noch während er sich im Bild verlor, gleichsam darin spazieren ging, betraten drei ihm bekannte Herren, unter ihnen der Abteilungsleiter Christ, das Sitzungszimmer; man hiess Fred Platz nehmen.

Sein Blick blieb auf dem Oelgemälde haften; er entsann sich eines sommerlichen Sonntagnachmittags: Nachdem er im Stadion ein Fussballspiel verfolgt hatte, verspürte er das Bedürfnis, aus der Menschenmenge zu flüchten, mit sich allein zu sein, und er geriet auf dem Heimweg in einen Park. Ein Gewimmel von kinderreichen Familien säumte den Rasenrand; unter dem wispernden Laub der Parkbäume wurde gepicknickt, palavert, gedöst; kleine nackte Kinder plantschten in einem Wasserbecken, und auf den Bänken thronten Rentner und überwachten das Geschehen. Fred schritt auf den schattenlosen Rasen hinaus, der öde war, weil die Hitze so fürchterlich sengte. Er legte sich auf den Rücken ins Gras, das unmerklich zitterte, da ein stiller Wind darüber strich. So ruhte er eine geraume Weile, gab sich der Sonnenglut hin, und schlummerte ein. Aber als er erwachte, fegte ein Sturm durch die menschenleer gewordene Parkanlage. Fred blieb vorerst liegen, starrte auf die herbeihastenden dunklen Wolken, lauschte dem Rauschen des die Baumkronen durcheinanderwirbelnden Winds, bis ihn plötzlich einsetzende Schauer zur Flucht trieben. Er rannte zu einem Kastanienbaum, der ihm Schutz vor dem ungestüm niederprasselnden Regen zu bieten versprach, wurde aber von einem Schlag ins Genick zu Boden geworfen; der Sturm hatte einen Ast gefällt. Und nun lag Fred auf dem Spazierweg, gedrückt vom Ast, und schluchzte vor Schreck und lachte, überwältigt vom Glück, den Blitzschlag überlebt zu haben.

Als Fred ins Büro zurückkehrte, wo Frau Erhart immer noch am Personalcomputer tippte, meldete er mit blasser Stimme, es habe sich um ein Entlassungsgespräch gehandelt; als Familienvater mit sozialen Verpflichtungen träfe es ihn  hart, aber er verstehe es auch als eine Chance. Frau Erhart schien kaum aufzuhorchen; ihre Finger hämmerten ungebrochen weiter auf die Tasten, als wollte sie demonstrieren, wie verbissen sie ihre Lebensstelle zu sichern bereit sei.

"Ich gehe nun in die Mittagspause", sagte Fred, und er schob sich in seinen Mantel und verliess das Büro. Als er vor dem Gebäude den Fussgängerstreifen überquerte, fuhr ihn ein Auto beinahe über den Haufen; durch die Windschutzscheibe sah er Christs hämisches Grinsen.

Fred  setzte seinen Gang fort, als ob nichts geschehen sei

 geschrieben 1988