Ein Träumer
 
Von Felix Feigenwinter
 
 
Seine Eltern hatten ihn über die grüne Grenze aus dem Kriegsland gerettet, auf der Flucht vor den Mördern ihrer eigenen Eltern. In der neuen Heimat wurde der Friedenstraum mit Glockengeläut und stolz gehissten blutroten Fahnen gefeiert, auf denen schneeweisse Kreuze ohne Haken prangten. Die Fahnen flatterten im wonnigen Frühlingswind.
 
Seine Überlebensgeschichte anvertraute er mir zwanzig Jahre danach in der unversehrten Gemütlichkeit einer Gaststube, deren Wandgemälde die Schrecken zweier Weltkriege überstanden hatten; später wichen die dunkelfarbigen Bilder aus einer versunkenen Zeit einem unverbindlich-heiteren Design.
 
Im renovierten Restaurant konnte ich ihn nur dreimal erleben. Das erste Mal bemerkte ich, wie er in der Begleitung einer älteren Dame das Lokal betrat, die für ihn, als sei er blind, die Glastür aufstiess und hielt. Er hatte mich nicht gesehen, und ich liess die beiden ungestört; die Dame hielt ich für seine Mutter.
 
Das zweite Mal, an einem sonnigen späten Nachmittag, sass ich draussen vor dem Restaurant. Er verhielt sich wie ein Schlafwandler, setzte sich zu mir und bestellte ein Frühstück. Die Kellnerin hielt ihn für einen Witzbold, denn der Tag war wie gesagt nicht mehr jung, und Frühstück gab’s nur morgens bis elf Uhr. Aber mein Bekannter, der als Filmkritiker arbeitete, meinte es ernst; er hatte in der Nacht einen Bericht für eine Zeitung geschrieben und anschliessend bis in den Nachmittag hinein geschlafen. Als er erwachte, glaubte er, es sei noch Morgen.
 
Das dritte Mal erwartete ich ihn an einem regnerischen, gewitterigen Spätsommermorgen in der renovierten Gaststube. Als er eintreten wollte, übersah er die Glastür, in die er stolpernd fiel, sie unabsichtlich zertrümmernd; blutüberströmt lag er nun im Scherbenhaufen. Schon abends starb er dann unerwartet – viel zu jung! – in der Klinik, in deren Notfallstation man ihn operiert und verbunden hatte.  

Seine Gabe, am heiterhellen Tag mit offenen Augen zu träumen, hatte uns verbunden. Seine Fähigkeit, unsichtbare Grenzen zu durchbrechen, kostete ihn das Leben.