Die Aussteigerin

Von Felix Feigenwinter

Gemessen an ihrem Bewegungsspielraum auf den knapp zwei Quadratmetern, wo sie täglich während fast neun Stunden am Fliessband saß, hätte man sie mit einem Batteriehuhn vergleichen können. Ihr eigener natürlicher Bewegungsdrang war offensichtlich beschnitten. Eines Mittags, in der Kantine, während der dreiviertelstündigen Essenspause, liess sich Frau Herrmann ein Poulet auf den Teller schieben. Sie ging auf ihren Platz zurück, den sie beim Mittagessen seit Jahren an der Fensterfront einnahm, in der Hoffnung, Sonnenschein würde ihr neongebleichtes Gesicht ein wenig färben. Sie steckte die Gabel ins Poulet, hielt inne, zog sie wieder heraus und stach, nach einer kurzen Meditationspause, die Spitzen wuchtig, mit einem grellen Schrei des Schmerzes, ins eigene Fleisch. Ihr Handgelenk, aus dem nun Blut spritzte, wurde vom betriebseigenen Sanitätsdienst zwar schnell und fachmännisch verbunden, aber eine Genesung schien, da sie sich standhaft dagegen sträubte, unabsehbar.

Sie möchte nicht als Brathuhn enden, erklärte sie immer wieder den ratlosen Arbeitskolleginnen und Vorgesetzten in der Firma. Schließlich, weil alles Zureden nichts änderte, erzählte sie ihre Geschichte einem anfänglich verständnisvoll, bald jedoch ermattet, ja widerspenstig-verächtlich aussehenden Arzt der psychiatrischen Klinik, der mit der Zeit der stereotypen Begründung ihres beharrlichen Streiks gar gleichgültig zuhörte.

Mittlerweile beschlich sie der Verdacht, der Psychiater höre ihr nicht mehr zu, sondern entspanne sich, während sie redete, mit Hilfe von Ohropax, in Gedanken woanders weilend, an einem freien Wochenende etwa, bei einem Tennismatch, oder bei einem Tête-à-tête mit einer Nackttänzerin. So argwöhnte sie, nachdem sie in einem bunten Blatt, das im Patientencafé auflag, einen Bericht über die Vergnügungen gut verdienender Herren in den Nachtlokalen der Stadt gelesen hatte.

Sie begann ihren Streik auszudehnen. Sie führte nur noch murmelnde Selbstgespräche. Dass der Psychiater darauf nicht anders reagierte als auf ihre früheren lebhaften Monologe, erschien ihr selbstverständlich.

 

 

Erschienen im "Nebelspalter" 1986