Hexenfeuer
Eine Schauermär von Felix Feigenwinter
Eines Sommerabends habe ein Mann oder Männlein - jedenfalls ein männliches Wesen - das Lokal betreten und sei keineswegs entschlossen, sondern zögerlich auf den Frauenstammtisch zugesteuert, sei dort stehengeblieben, habe herumgetruckst, bis es scheu, ein wenig linkisch eine der sieben Damen anzusprechen gewagt habe. Offenbar habe es gefragt, ob am Tisch noch ein Platz frei sei, was eine der Frauen (eine nicht mehr ganz junge, aber noch keineswegs greise, sondern lebhafte, heitere, blühende Dame) lachend mit temperamentvoll einladenden Gesten bejaht habe, worauf sich das etwas bekümmert dreinblickende, schmächtige Herrlein scheinbar verdutzt über den eigenen Mut inmitten der inzwischen bereits ausgelassenen Runde niedergelassen habe. Vorerst sei der kleine Mann noch etwas verloren dagesessen, bis ihm der Kellner den gewünschten Wein hingestellt habe. Danach sei der Fremde nach und nach aufgeblüht, habe das Palaver der lebensfrohen Weiber mit munterer Neugier verfolgt, mehrmals Wein nachbestellt, und er sei in die Unterhaltung immer mehr einbezogen worden. Ja, das anfänglich verklemmt, geradezu vergilbt wirkende Männlein habe sich im Verlauf des Abends zu einem brillanten Chauseur und Charmeur entwickelt. Etwa eine halbe Stunde vor Mitternacht sei es inmitten des fröhlich palavernden Septetts aufgebrochen und habe, zusammen mit den Frauen, die ihm übrigens die Zeche bezahlt hätten, ein Taxi bestiegen.
Das alles sei umso erstaunlicher, als es sich beim Damenclub um eine Versammlung radikaler Feministinnen gehandelt habe, in deren Haus am Stadtrand sonst keinen Männern Einlass gewährt worden sei. Die sieben Sufragetten hätten sich bereits in mancherlei Hinsicht als Männerschreck profiliert, obwohl man es - und dabei handle es sich um seine ganz persönliche, gewissermassen private Meinung, zu der er aber jederzeit stehe - mit durchaus attraktiven Damen zu tun gehabt habe.
So ungefähr schilderte mir, der ich zum erstenmal und rein zufällig in diese Quartierspelunke geraten war, Hansjörg Graber, ein pensionierter Postverwalter, während er an jenem Abend im Restaurant "Diana" mehrere Deziliter Rotwein trank, seine einstigen Beobachtungen aus dem sicheren Späheck am Jasstisch schräg gegenüber des runden Stammtisches, wo sich die sieben Frauen jeden Montagabend getroffen hätten, wie Graber weiter erzählte.
An seinem Arbeitsort, so spintisierte der weinselige Rentner weiter, hätten die Postangestellten ihre Köpfe zusammengereckt und über das Verschwinden des geheimnisvollen Fremden spekuliert, der seither in der Stadt nie mehr gesichtet worden sei. Schliesslich hätte ein Gerücht sowohl am Jasstisch als auch im ganzen Quartier die Runde gemacht: Danach hätten die sieben Frauen den Zwerg verhext und in ihrem Haus auf unsägliche Weise missbraucht, ja, schliesslich gar ermordet, wobei schauerliche Details nur andeutungsweise und hinter vorgehaltener Hand zur Sprache gekommen seien. Ein anderes Gerücht verbreitete die unbehagliche Nachricht, der Fremde sei in Wahrheit ein Hexenmeister, ein listig getarnter, unheimlicher Zauberzwerg gewesen, der zusammen mit den Frauen Unheilvolles ausgeheckt und das Quartier, ja die ganze Stadt habe ins Verderben stürzen wollen.
So sei es nur zu verständlich gewesen, dass sich bald kein Briefträger mehr gefunden hätte, der das Hexenhaus habe aufsuchen wollen, um die dorthin adressierte Post abzuliefern. Die Briefe und Pakete seien im Postkeller gesammelt und jeden Monat bei Vollmond im Hinterhof des Postgebäudes verbrannt worden, wobei die Flammen, welche die Hexenpost habe vertilgen müssen, von Monat zu Monat heftiger gelodert hätten; das Ritual habe zusehends mehr Zuschauer angezogen.
Ein wahres Höllenfeuer aber hätten die Quartierbewohner in einer Vollmondnacht im darauffolgenden Frühling erlebt: Allen sei sofort klar gewesen, dass es sich nicht um das rituelle Postvernichtungsfeuer habe handeln können, allzu wild seien die Flammen am Rande der Altstadt in den Maihimmel gelodert. Das Haus der sieben Frauen habe lichterloh gebrannt, und nachdem das Inferno von der Ortsfeuerwehr endlich habe gelöscht werden können, habe von ihren Bewohnerinnen jegliche Spur gefehlt. Ein Zeuge habe sie auf Besen durch die Luft schiessen und im nahen Buchenwäldchen entschwinden sehen. In der Asche des ausgebrannten Gebäudes habe man die verkohlten Reste eines kleingewachsenen Mannes gefunden, bei dem es sich nach Ansicht der Untersuchungsbeamten um den Brandstifter gehandelt habe.
Erst viel später - der pensionierte Postverwalter, der mir diese grausliche Geschichte vor einigen Jahren weintrunken erzählt hatte, war inzwischen verstorben - , fanden Bauarbeiter im Garten des niedergebrannten Hauses, wo nun ein Gebäude für die städtische Verwaltung gebaut werden sollte, die Skelette von sieben beerdigten Frauenleichen, wie ich von der Wirtin des Restaurants "Diana" erfuhr, nachdem ich wieder einmal in dieser Pinte, wo ich nie zu den Stammgästen gehörte, eingekehrt war. Seither würde der grosse runde Stammtisch, wo früher die sieben Frauen jeweils gefeiert hätten und wo einst der rätselhafte Zwerg auf sie getroffen sei, in jeder Vollmondnacht zum Andenken an diese Frauen mit sieben Flaschen Wein und sieben Gläsern gedeckt und mit sieben Kerzen und einem grossen Blumenkranz geschmückt. Einen Tag und einen Abend lang dürfe sich dann kein Gast an diesem Tisch niederlassen, berichtete die Wirtin weiter, die übrigens einen durchaus bodenständigen Eindruck hinterliess und beteuerte, sie habe den ominösen Zwerg mit eigenen Augen gesehen.