Evas Ausflüge
Von Felix Feigenwinter
Eva Meier sass auf einem Bänklein des örtlichen Verkehrsvereins und blickte über eine ungemähte wogende Wiese – ein von Hitze und Wind zerpflügtes weites Pflanzenfeld, dessen Grün mit gelben, lila und blutroten Blüten durchsetzt war. Auf den Gräsern, die im Wind tanzten, glänzte der Schein der hohen Sonne; der See im Hintergrund war ein glitzernder hellblauer Spiegel, an dessen Rändern Nadelbäume violette Schatten warfen. Ringsum strotzten in milden Dunst gehüllte Bergriesen; auf den höchsten Gipfeln schimmerte es schneeweiss.
Das Bild war Eva vertraut. Jeden Sommer, in den Juliwochen, aber auch während der winterlichen Hauptsaison, tritt sie in der eleganten Bar des grossen Hotels auf, das sich wie eine feudale Festung über dem Feriendorf erhebt. Dort greift sie in die Tasten (es ist für sie Ehrensache, mit nie erlahmender Begeisterung sorgfältig, aber auch brillant und immerzu kreativ zu spielen, nicht einfach zu klimpern wie so viele ihrer routinierten und resignierten Berufskollegen, die als Barpianisten keinen künstlerischen Ehrgeiz mehr zu entwickeln schienen), und manchmal, wenn ihr das Publikum dafür empfänglich scheint, begleitet sie ihre Klaviermusik mit leidenschaftlichem Gesang. Eva Meier tritt als Eva Schmetterling auf, ein Künstlername, der ihr im Traum zugefallen war, als sie noch nicht als Barpianistin durchs Land zog, sondern als Studentin Ambitionen als Konzertpianistin hatte.
Während Eva nun ihre Nachmittagspause da draussen auf einem Bänklein verbrachte und das ihr vertraute Bild der Berglandschaft in sich einsog, begann ihre musikschwangere Seele zu jauchzen und hinauszuschwirren in die leichte, reine Alpenluft; rhythmisch und melodisch flatterte sie über die Wiese von Blüte zu Blüte, und es erstaunte sie, dass sie weit und breit der einzige Sommervogel war.
Als sie dann am Abend den Hotelraum betrat, wo der Flügel stand, ein fast protzig grosses Instrument mit glänzender Oberfläche, und wo sich die Bar und die Clubsessel befanden, von wo aus die Besucher Evas Improvisationen entspannt folgen konnten, war erst ein einziger Gast anwesend. Dieser Frühankömmling, ein älterer Herr, sass an der Bar vor einer Spirituose; ein eigentlich unscheinbarer, graumelierter, schmaler Mann, der nun mit feingliederigen Fingern das Glas ergriff, um das Getränk vorsichtig zu schwenken; dabei musterte er Eva durch beschlagene Brillengläser und erwiderte ihren Gruss mit einem undeutlichen Kopfnicken. Eva setzte sich an den glänzenden Flügel und begann mit ihrem Abendprogramm. Allmählich füllte sich der Raum mit verschiedenen Leuten, Hotelgästen aus aller Welt, aber auch einheimischen Dorfbewohnern und einigen Menschen aus den umliegenden Ferienwohnungen. Es war Freitag, und der Andrang war dichter als an gewöhnlichen Abenden (Eva bevorzugte die stilleren, beschaulicheren Stunden); im Hotel tagte ein akademischer Kongress, und später belagerte auch eine Gruppe von übermütigen jungen Leuten Evas Piano, Teilnehmer eines Weiterbildungskurses, der im Ferienort stattfand. Die jungen Gäste äusserten Musikwünsche, verlangten Stücke, die nicht alle zu Evas Repertoire gehörten, und ein betagter Rentner, ein reicher Witwer, wie Eva vermutete, überhäufte sie mit Komplimenten, spendete ihr teure Getränke und konfrontierte sie gar mit einem vielleicht ernst gemeinten Heiratsantrag, den sie charmant zurückwies. Kurz darauf erlitt dieser Greis einen Schlaganfall und musste von einer Ambulanz wegtransportiert werden. (Am Abend danach erfuhr Eva vom Hotelarzt, dass der Kavalier noch in der gleichen Nacht verstorben sei.)
Die von den Gästen verursachten Geräusche, das Stimmengewirr, viel Gelächter, auch das Klirren und Klappern von Gläsern, Essgeschirr und Besteck, übertönten bisweilen Evas Musik und Gesang. In all dem Trubel verlor sie den ersten Gast des Abends, den schmalen, bebrillten älteren Herrn mit seinem Spirituosenglas, keineswegs aus ihrem Blick. Zwar hätte sie nicht beurteilen können, welche und wie viele Getränke dieser Einzelgänger im Verlauf des langen Abends bestellt und geschlürft haben mochte, doch je länger sie ihn von ihrem Klaviersessel aus beobachtete, desto sicherer war sie, dass sie ihm vor vielen Jahren als Studentin schon einmal begegnet war, ihn bewundert, sogar verehrt hatte.
Eva erinnerte sich an einen eifrigen jungen Mann mit Künstlermähne, mit dem sie damals das Kunstmuseum ihrer Heimatstadt durchwandert hatte, wo er sie mit gescheiten kunsthistorischen Erklärungen beeindruckte. In jener Zeit arbeitete er an einem Text, den sie für ihn ins Reine tippte, aus Idealismus, aus Begeisterung, aus Respekt vor dem jungen Mann mit der Künstlermähne, und aus Ergriffenheit über die Bilder einer hochbegabten Malerin, einer ihr bisher unbekannten einheimischen Künstlerin, deren Werke Peter Schällimatt, so hiess der junge Kunsthistoriker, in einer Galerie entdeckt hatte und nun mit scharfsinnigen Ueberlegungen analysierte. Eva hatte sich für die Malerin interessiert, wollte sie persönlich kennenlernen, was sie Schällimatt anvertraute, sie bat ihn um Vermittlung; der war der Künstlerin an einer Vernissage persönlich begegnet, hatte sie später in ihrem Atelier besucht, wie er Eva erzählte, um möglichst viele ihrer Gemälde für seinen Text zu inspizieren. Schällimatt reagierte auf Evas Anliegen unerwartet arrogant und autoritär: die Person und das Leben eines Künstlers seien unwichtig, belehrte er sie schroff, die Biografie lenke vom Wesentlichen ab – von der Kunst, um die es letztlich gehe; er sehe nicht ein, warum sie diese Malerin persönlich kennenlernen wolle, das sei unnötig. Eva war zutiefst enttäuscht und verletzt; ihre Beziehung zu Schällimatt war unrettbar zerbrochen. Schällimatt schien dies nicht zu stören; er suchte keine Verständigung, kümmerte sich nicht mehr um Eva, verfolgte unbeeinträchtigt seine ehrgeizigen Ziele.
Der ältliche Herr, der einen Abend lang an der Bar sass und Evas Klavierspiel und Gesang zu lauschen schien, war Peter Schällimatt, davon war Eva mittlerweile überzeugt, obwohl das einst Charakteristische an seiner äusseren Erscheinung, die verwegene Künstlermähne, weggeschnitten war; der Mann sah nun banaler aus, fand sie; sein Kopf schien geschrumpft; aber die Gesichtszüge waren ihr vertraut.
Während einer Pause begab sich Eva zur Bar und sprach den zwischen übermütig plaudernden jüngeren Gästen in sich versunken dasitzenden Einzelgänger an. „Sind Sie nicht Herr Schällimatt?“, fragte sie vorsichtig. – „Der bin ich“, bestätigte der Gast. – „Dann kennen wir uns“, erwiderte Eva, „vor vielen Jahren habe ich Dir einen Text ins Reine getippt, eine Arbeit über die Bilder einer jungen, vielversprechenden Malerin.“
„Ach, wie spassig!“, bemerkte Schällimatt, der sich nun aufreckte, „das ist lange her! Eva Meier?!“ – „Ja, immer noch. Hier trete ich als Eva Schmetterling auf, mein Pseudonym.“
Schällimatt nickte. Eva erinnerte ihn daran, wie er sich damals geweigert hatte, sie mit der Malerin in Kontakt zu bringen – weil angeblich die Person und das Leben der Künstlerin nicht wichtig seien, von der Kunst nur ablenkten. Schällimatt stutzte und meinte trocken: „Diese Malerin ist übrigens gestorben. Sie hat sich das Leben genommen. Ich habe es erst kürzlich erfahren, weil man mich anfragte, ob ich an einer Gedenkausstellung reden könne. Ich musste absagen.“ – „Ist das alles, was Dir dazu einfällt?“, fragte Eva, bevor sie sich zurückzog, um ihre Arbeit am Flügel fortzusetzen – aufgewühlt, traurig, empört.
Am nächsten Tag entdeckte sie im Foyer des Hotels ein Plakat. Mit wachsender Verblüffung las sie:
Votrag von Professor Peter Schällimatt.
Nationalsozialistisches Kunstverständnis hinsichtlich der Biografie von Adolf Hitler und dessen Scheitern als Kunstmaler.
Professor Schällimatt signiert sein soeben erschienenes neues Buch zu diesem spektakulären Thema.
Eva überlegte: Wie war Schällimatts Interesse für das Leben von Adolf Hitler zu erklären, für dessen Scheitern als Kunstmaler – angesichts seiner Ignoranz gegenüber dem Schicksal einer Malerin, deren Bilder er einst analysierte, unabhängig von der Künstlerin und deren Biografie, die er missachtete? War es ganz banal die Aussicht auf hohe Auflagezahlen für ein Buch über eine weltbekannte historische Schreckensgestalt? Dagegen bot die tragische Nischenexistenz einer Malerin, deren Bilder ihm willkommenes Material für eine kleine kunstwissenschaftliche Textübung lieferten, keine Garantie für eine erfolgreiche Vermarktung und Förderung seiner Reputation als etablierter Publizist.
Gegen Abend jenes Tages setzte sich Eva wieder auf die Bank des örtlichen Verkehrsvereins mit Blick auf die Sommerwiese und den See im Hintergrund. Während sie sinnierte, näherten sich ihr auf dem schmalen Spazierweg, der an der Bank vorbeiführte, Peter Schällimatt und eine Dame, wohl die Gattin des Professors, die diesem vielleicht nachgereist war, um dessen Vortrag über das nationalsozialistische Kunstverständnis beizuwohnen. Noch bevor das Paar die Bank erreichte, startete Eva zu einem Ausflug über die Wiese.
Den Vortrag besuchte sie nicht. In ihr Tagebuch schrieb sie:
Adolf Hitler und Peter Schällimatt sollen mir gestohlen bleiben!