Gespräch mit der Präsidentin der Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel und Umgebung, Claire Kundert-Broda. Am 10. März 1970 wurde dieses Interview im Basler "doppelstab" veröffentlicht.
Von der politischen Rechtlosigkeit in der Schweiz
Von Felix Feigenwinter
Zu den sieben Staaten, in denen die Frauen kein Stimmrecht haben, gehört – die Schweiz. Also ausgerechnet jenes Land, das stolz ist auf seine Demokratie und darauf, laut Bundesverfassung keine Untertanenverhältnisse zu kennen. Wie ist dieses Paradox zu erklären?
Als 1848 unser Bundesstaat organisiert wurde, zog man die Frage des Frauenstimmrechts gar nicht in Erwägung. In der politischen Rechtlosigkeit der Frauen sah man offenbar keinen Widerspruch zum Prinzip der Volkssouveränität. Noch herrschte das Patriarchat unangefochten. Zudem galt die Familie als Zelle des Staates. In seiner vor elf Jahren herausgegebenen Broschüre „Frauenstimmrecht“ formulierte Emile Villard dieses Verhältnis wie folgt: „Die Männer übten die Souveränität in Vertretung der das Gesamtvolk ausmachenden Familien aus. Was heute zum einseitigen Männerstimmrecht geworden ist, ist also nicht als solches entstanden, sondern gewissermassen als Familienstimmrecht“. Darauf lässt übrigens u.a. schliessen, dass (ich zitiere wiederum Viillard) „in früheren Zeiten an gewissen Orten die Witwe zur Gemeindeversammlung und zur Ausübung des Stimmrechts zugelassen wurde, sozusagen in Stellvertretung des verstorbenen Familienvaters oder, noch richtiger: als die nun einzig vorhandene Vertreterin der betreffenden Familie“.
Inzwischen sind über 130 Jahre verstrichen, und die Verhältnisse haben sich grundlegend geändert. Die Männerherrschaft wurde durch ihre Untertanen – durch die in den Erwerbsprozess eingeschalteten und endlich „erwachten“ Frauen – ins Wanken gebracht. Das Unrecht der politischen Rechtlosigkeit wurde plötzlich empört wahrgenommen, in der Schweiz vorerst vor allem von erwerbstätigen Frauen.
Als erster führte der amerikanische Staat Wyoming 1869 das vollständige Frauenstimmrecht ein, nachdem zum Beispiel die Australierinnen, die Schwedinnen und die Finnländerinnen schon anfangs der sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts das parzielle Wahlrecht erhalten hatten.
Nach dem Ersten Weltkrieg, zwischen 1918 und 1928, begann das integrale Frauenstimmrecht in den meisten europäischen und überseeischen Kulturstaaten zu funktionieren. Nur die schweizerische Landesregierung hatte taube Ohren.
Zwar wurde der Bundesrat bereits 1919 in Motionen um Bericht und Antrag bezüglich der verfassungsmässigen Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechts ersucht, doch die „sieben Weisen“ zeigten überhaupt kein Interesse an der Sache; die Eingaben wurden schubladisiert. Und so erging es auch später mit vielen anderen Vorstössen von fortschrittlichen Bundesparlamentariern und wagemutigen Frauen.
Ist eine Volksabstimmung (lies: Männerabstimmung) überhaupt nötig?
Heute nun liegt ein bundesrätlicher Beschluss vor, der die Schweizer Frauen aus ihrer politisch unwürdigen und die Schweiz aus ihrer völkerrechtlich peinlichen Situation retten soll. Freilich scheint es ein untauglicher Versuch zu sein: Die Generalversammlung der Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel und Umgebung hat kürzlich beschlossen, den Rückzug des Beschlusses unserer Landesregierung vorzuschlagen. Und die Nationalräte Arnold (Zürich) und Gerwig (Basel) regen – übrigens nicht neu – Patentlösungen an, mit denen das Frauenstimmrecht ohne eidgenössische Männervolksabstimmung verwirklicht werden soll. Arnold, indem er daran erinnert, dass unter dem Begriff „Schweizer“ in der Bundesverfassung selbstverständlich auch die „Schweizerinnen“ gemeint seien (somit wäre die Einführung des Frauenstimnmrechts ohne jegliche Verfassungs- oder Gesetzesänderung möglich); Gerwig, indem er eine Abänderung der Bundesgesetze über das Stimmrecht (statt eine Verfassungsrevision) beantragt, was nicht durch eine Abstimmung des Schweizer Männervolks zu geschehen hätte.
In Riehen sprach ich mit der Präsidentin der Vereinigung für Frauenstimmrecht Basel und Umgebung, Claire Kundert-Broda.
Felix Feigenwinter: Frau Kundert, der Bundesrat hat im Januar 1970 eine Botschaft erlassen, die für das Frauenstimm- und Wahlrecht in eidgenössischen Angelegenheiten plädiert. Was veranlasste der Bundesrat zu diesem Vorschlag? War es vor allem der Druck der Frauenverbände, oder waren es vielleicht eher die zwei parlamentarischen Vorstösse der Nationalräte Max Arnold (Zürich) und Andreas Gerwig (Basel), deren Behandlung im Parlament er zuvorkommen wollte?
Claire Kundert: Ich glaube, dass der Bundesrat seine Botschaft nicht aus diesen Gründen erlassen hat, sondern dass die Diskussion um die Unterzeichnung oder Nichtunterzeichnung der europäischen Menschenrechtskonvention unter Vorbehalten den Bundesrat veranlasst hat, zu versuchen, einen der wichtigsten Vorbehalte, nämlich das auf eidgenössischem Boden fehlende Frauenstimmrecht durch eine eidgenössische Männer-Volksabstimmung zum Verschwinden zu bringen. Bekanntlich hat der Ständerat am 7. Oktober 1969 seine Zustimmung zur Unterzeichnung der europäischen Menschenrechtskonvention nicht gegeben, unter anderem aus Gründen des noch fehlenden Erwachsenenstimmrechts auf eidgenössischem Boden.
Durch das Herausbringen der Botschaft folgte der Bundesrat ferner den Anträgen der Motionen der Nationalräte Schmitt und Tanner.
F.F.: An der Generalversammlung am 23. Februar 1970 in Basel wurde die Vorlage des Bundesrates als Zumutung bezeichnet, und es wurde beschlossen, deren Rückzug zugunsten der Vorstösse Arnold und Gerwig vorzuschlagen. Was wird jetzt von Ihrer Vereinigung in dieser Sache konkret unternommen?
C.K.: Wir betrachten die Botschaft nicht als Zumutung, sondern vielmehr als sehr unsicheren Weg zur Verwirklichung des eidgenössischen Erwachsenenstimmrechts, da für dessen Einführung nicht nur das Stimmenmehr zählt, sondern auch das Ständemehr gefordert wird.
Nachdem der Bundesrat im Dezember 1968 in seiner Botschaft über die „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ versprach, er wolle alles tun, was in seiner Gewalt liegt, um den jetzigen Zustand (den frauenstimmrechtslosen also) so bald als möglich zu ändern, hofften wir zuversichtlich, dass dieses Versprechen nicht nur durch eine neue Männerabstimmung über eine Verfassungsänderung eingelöst wird. Wir hofften auf ein Vorgehen entweder nach der Motion Arnold (Interpretation) oder nach dem Postulat Gerwig (nur Abänderung der Bundesgesetze über das Stimmrecht). Gerade die Einführung des eidgenössischen Erwachsenenstimmrechts nach den Anträgen des Postulats Gerwig wäre der schnellste und auch der billigste Weg; hunderttausende von Franken sowie Zeit und Kraft könnten gespart werden. Die Rechte der Männer wären trotzdem gewahrt, stünde ihnen doch der Weg des fakultativen Referendums offen. Zusammen mit dem Schweizerischen Verband für Frauenstimmrecht wird unsere Vereinigung danach trachten, dass die beiden Vorstösse Arnold und Gerwig in der eidgenössischen Kommission eingehend geprüft werden, bevor die Botschaft des Bundesrates zur Diskussion steht. Wir zählen auf die Parlamente, die es ermöglichen könnten, dass durch ihre Aufgeschlossenheit die Lösung im Sinne der Vorstösse Arnold und Gerwig herbeigeführt wird. Eine eidgenössische Männerabstimmung zur Frage der Änderung der Bundesverfassung würde sich in diesem Fall erübrigen.
F.F.: In Basel-Stadt existiert das demokratische Stimmrecht in kantonalen Angelegenheiten, wie auch im Kanton Basel-Landschaft, schon seit etlicher Zeit. Die Frauen sind vom städtischen Parlament nicht mehr wegzudenken. Hat sich der weibliche Einfluss in der baselstädtischen Politik ihres Erachtens bereits spürbar ausgewirkt – falls ja, inwiefern?
C.K.: Positiv ist, dass es möglich geworden ist, bei Abstimmungen und Wahlen die Volksmeinung und nicht nur die Meinung eines Volksteils einzuholen. Vom städtischen Parlament möchte ich behaupten: Je vielfältiger es in personeller Hinsicht zusammengesetzt ist, umso lebensnaher kann es urteilen.
F.F.: Das Frauenstimmrecht ist aber ja nur ein Teilaspekt der Frauenemanzipation. Wenn die Frauen das politische Mitspracherecht besitzen, heisst das noch nicht, dass sie sich emanzipiert haben. Hat Ihrer Meinung das Frauenstimmrecht einen direkten Einfluss etwa auf die ungleiche Bezahlung gleicher Arbeit von Männern und Frauen oder auf die Entmündigung der Frauen in der Ehe, um nur zwei Beispiele von heutigen Diskriminierungen der Frau in der Schweiz zu nennen?
C.K.: Es ist anzunehmen, dass verschiedene „alte Zöpfe“ im Laufe der Zeit verschwinden werden, wenn alle Beteiligten das Mitspracherecht haben, zum Beispiel punkto Vermögensverwaltung in der Ehe. Auch bei der heute noch ungleichen Bezahlung gleichwertiger Arbeit von Mann und Frau dürfte sich das Erwachsenenstimmrecht auf das Verdienstverhältnis der Frau positiv auswirken.
F.F.: Welche Möglichkeiten würden Sie den Frauen empfehlen, sich unabhängig von den gesetzlichen Zugeständnissen der Männer zu aktivieren?
C.K.: Wir wollen uns nicht von den Männern distanzieren, sondern mit ihnen in der Politik zusammenarbeiten. Ich persönlich sehe keine Veranlassung, dass wir von dieser Stellungnahme früher oder später abweichen sollten.
Im sozialen Sektor war es früher in Basel üblich, dass Frauen selbständige Institutionen wie Tagesheime, Kinderspital, Krippen, Mütterschulen und Erziehungsheime gründeten. Sie hatten dabei viele finanzielle Schwierigkeiten zu überwinden.
Das volle politische Erwachsenenstimmrecht, also die Emanzipation, wenn Sie so wollen, erleichtert das Zusammenwirken von Männern und Frauen bei diesen für die Gesellschaft und die Familie so wichtigen Aufgaben.
Was in früheren Zeiten durch soziale Arbeit auf privater Ebene noch möglich war, kann heute in Anbetracht der Grösse der Stadt und der erhöhten Ansprüche an Komfort und Hygiene nur noch mit Hilfe des Staates verwirklicht werden. Ebenso ist heute die Schulung des jungen Mädchens wichtiger denn je. Sie soll ihm volle Befriedigung im gewählten Beruf vermitteln und darüber hinaus auch Voraussetzungen erfüllen, die ihm im „troisième age“ - unsere welschen Miteidgenossen bezeichnen damit charmant die Altersstufen der Frau nach Fünfundvierzig – ermöglichen, das Leben sinnvoll für sich, für die Familie und die Gesellschaft zu gestalten. Die Mitarbeit der geschulten Frau ist in unserem Staat ja nicht mehr wegzudenken.
F.F.: Viele moderne Frauen betrachten die „Pille“ als das wirksamste Mittel zur Erreichung ihrer individuellen Unabhängigkeit. Teilen auch Sie diese Ansicht? Welche konkrete Auswirkungen wird die „Pille“ auf die Frauenemanzipation haben?
C.K.: Das ist eine private Angelegenheit, die jede Frau allein entscheiden muss und für die darum keine mutmasslichen Auswirkungen prophezeit werden können.