„Basler Nachrichten“ 28./29. Januar 1961:


Der Schweizer Kunstphotograph René Mächler in Caen

Von Felix Feigenwinter

Heute wird in der Universität zu Caen die „Exposition internationale d'art phoptographique de Caen“ eröffnet. Ein reichhaltiges Photomaterial aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, darunter zwanzig aus der Braive-Sammlung stammende Aufnahmen des Porträtisten Nadar, erinnert an die Pionierzeit der Photographie. Das „Mittelalter“ ist mit 19 zwischen den Jahren 1900 und 1930 entstandenen Photographien Bachelards vertreten; Arbeiten des amerikanischen Aktphotographen Man Ray, des in Paris lebenden Rumänen Brassai sowie des von Jean Cocteau und Picasso geförderten jungen Franzosen Lucien Clergue – um nur die Wichtigsten zu nennen – legen Zeugnis von der modernen Schaffensperiode ab.

In den Reigen dieser Prominenz wurde auch ein Schweizer aufgenommen: René Mächler aus Basel. Er ist nicht nur der einzige in Caen ausstellende Schweizer, sondern zählt mit seinen noch nicht 25 Jahren zu den Jüngsten. 

Man ist versucht, René Mächler als „Künder des Trostlosen“ zu bezeichnen. Seine Motive findet er auf den „Friedhöfen der Dinge“, wie er die Kehrichthaufen und Jauchegruben nennt, bei denen er mit seiner Kamera stundenlang verweilen kann. Es ist die melancholische Liebe zum Unbeachteten und Ausgestossenen, auch philosophisches Reflektieren, was ihn mit solchen Motiven beschäftigen lässt. Das Weggeworfene, Verbrauchte, als wertlos Erklärte wird in den Mittelpunkt gerückt: der in der Kloake schwimmende, angefaulte Holzschuh, ein zerschlissener Gummihandschuh auf dem Kehrichthaufen, zerfetzte Plakatreste auf einer alten Bretterwand, von emporschiessendem Unkraut umrankt. 

Der in Zürich Aufgewachsene wollte einst Kunstmaler werden, musste sich aber auf Wunsch des Vaters als Chemielaborant an der ETH ausbilden lassen. Nach der Ausbildung stellte er dem Vater das Ultimatum: „Entweder lässt du mich an die Photoschule gehen, oder ich ziehe aus!“ Der Vater ist gegen die Photoschule. So zieht der Sohn als Landarbeiter durch halb Europa. In der Camargue schliesst er sich einer Zigeunergruppe an; in Paris gesellt er sich zu den Clochards. „Tu n'est pas un Clochard, tu est un Suisse!“ sagt einmal einer zu ihm. In Stockholm verdient er seinen Unterhalt als Geschirrabwascher, es folgen Gelegenheitsbeschäftigungen als Chasseur, Kegelaufsteller, Zeitungsverträger, Uhrmachergehilfe. Eine Zeitschrift veröffentlicht seine Photoreportage über Fahrende; mit dem Honorar kauft sich Mächler Filme. Ende 1956 kehrt er, völlig mittellos, nach Zürich zurück. Vorübergehend arbeitet er in einer Firma für Photofilme. Doch bald verlässt er wieder seine Heimatstadt, siedelt nach Basel über, wird hier photographischer Mitarbeiter für Carl Laszlos Zeitschrift „Panderma“ und arbeitet in der Filmforschungsabteilung in der chemischen Industrie. Trotz gutem Einkommen verlässt er diese Stelle im Frühjahr 1958 und fährt voller Tatendrang nach Köln, um sich dort an der Höheren Fachschule für Photographie weiterzubilden. In dieser Zeit findet er Kontakt zur Dürener Kunstgruppe „Das Fenster“. Eine Ausstellung in Düren bringt ihm die Anerkennung als Künstler; Experten verheissen ihm eine vielversprechende Zukunft. 1960 kehrt er nach Basel zurück, das er heute als seine „geistige Heimat“ bezeichnet, und nimmt eine Stelle an einem Universitätsinstitut an.

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„Basellandschaftliche Zeitung“ 13. September 1961:

Gräber der Zivilisation

und „Paysages de femme“


Von Felix Feigenwinter

Was man gegenwärtig im modernen, geräumigen Ausstellungsraum der Firma Lüdin AG in Liestal zu sehen bekommt, ist meines Wissens die erste Kunstfotoausstellung im Kanton Baselland. Die Plakate hierfür hängen notabene nicht nur an Liestaler Schaufensterscheiben; sie weisen auch in Zürich und Basel auf das bedeutende Ereignis hin. Ursprünglich war für die Ausstellung der Titel „Tote Materie“ vorgesehen. In letzter Minute sozusagen telefonierte aber der ausstellende Künstler René Mächler nach Liestal und verlangte Titeländerung auf „Gräber der Zivilisation“. Wer Mächler kennt, versteht diesen Entschluss. Als er letztes Jahr in Düren ausstellte, nannte man ihn einen „Künder des Trostlosen“. Tatsächlich sind es Kehrichthaufen, Jauchegruben und Abbruchhäuser, die Mächler mit seiner Kamera durchstöbert. Für ihn leben die angerostete Kanalisationsröhre, der ausgebrannte Dachstuhl, der zerschlissene Gummihandschuh. Wenn er ein im Abwasser schwimmendes Etwas entdeckt, so fotografiert er es nicht in der Landschaft, sondern führt seine Kamera so nah wie möglich zum Objekt heran. Dennoch – oder gerade deswegen – wirken Mächlers unperspektivische Fotografien nicht naturalistisch. Es drängen sich Vergleiche zu abtrakter Malerei auf. Das Ausstellungsplakat zeigt ein verwittertes Gartentor, das einen Garten (Eden?) durchschimmern lässt. Die Gegenüberstellung von Natur und Zivilisation offenbart Mächlers inhaltliche Intention. 

Abgesondert von der Ausstellung „Gräber der Zivilisation“ wird im Projektsaal eine Auswahl von Mächlers neuesten Arbeiten gezeigt – ein interessanter Kontrast in gediegenem, intimem Rahmen. Eine einsame Haarlocke, ein Nackengrübchen, ein Fussknöchel und andere Details des menschlichen Körpers bannte der fotografierende Ästhet Mächler auf den Film. Ungewohnt ist, dass sich Mächler neuerdings direkt mit dem Menschen auseinandersetzt. Der in den „Gräber der Zivilisation“ zelebrierte Weltschmerz gedeiht in diesen unter dem Titel „Paysages de femme“ präsentierten Schwarzweiss-Bildern zur sanften, zärtlichen  Huldigung des weiblichen Körpers. Die kreative Detailbetrachtung führt zur abstrahierenden Verzauberung. Poesie vom Feinsten. 

Eine weitere Zugabe des noch jungen, in Zürich aufgewachsenen und heute, nach abenteuerlichen Reisen und Aufenthalten an verschiedenen Orten in Basel ansässigen Fotokünstlers, sind sechzehn experimentelle Farbaufnahmen.