Stäubli

 
Von Felix Feigenwinter
 
Eigentlich wollte sich Ferdinand Hofer so früh als möglich in seine Wohnung zurückziehen, nachdem er in der letzten Nacht bis zum Morgengrauen durchgearbeitet und anschliessend wegen einer Fahrt aufs Land, wo Überschwemmungsschäden zu besichtigen waren, nur kurz geschlafen hatte.
 
Die nächtliche Berichterstattung über eine Presseführung durch die Drogenszene liess ein dumpfes Gefühl zurück. Seinen Zeitungsartikel hatte er am frühen Morgen während der Reise durch die wassergeschädigte Landschaft noch einmal überflogen – er verabscheute diesen Text. Er hatte versucht, Anarchie aus dem Blickwinkel rechtsstaatlichen Bewusstseins darzustellen, den Dschungel der Drogenhölle zu rationalisieren. Das Elend der Drogenkranken, das ungehinderte Auftreten ihrer Giftzulieferer überführte die Imagepflege der Stadt ins Groteske. Hofer hatte sich eines radikalen Kommentars enthalten, und nun ekelte ihn die Scheinheiligkeit, der er sich resigniert unterworfen hatte.
 
Zwischen anderen Feierabendverkehrern wartete er aufs Tram, als ein neues Gewitter krachend und prasselnd auf die Menge niederschlug.
 
Da er nicht unter dem schützenden Dach der Haltestelle Platz gefunden hatte und der sehnlichst erwartete Tramzug immer noch nicht erschien, flüchtete er hemdsärmlig zum nächsten möglichen Unterstand – in die Bar gegenüber.
 
Den eher kleinen, ein wenig dicklichen Mann im bräunlichen Anzug hatte er vorerst nicht bemerkt, und nachdem er ihn in der Spiegelwand hinter der Theke endlich flüchtig gesehen hatte, interessierte er ihn immer noch nicht, so unscheinbar wirkte er zwischen den anderen Barbesuchern, wie ein Mensch, der Ansprüche an andere zu stellen sich abgewöhnt und mit dieser Bescheidenheit diskret umzugehen gelernt hat. Erst, nachdem er gebeten hatte, zahlen zu dürfen, stutzte Hofer. Er ertappte sich bei der Erwartung, der von ihm als konventionell eingeschätzte Gast würde nun ein ordentliches Portemonnaie hervorziehen und etwas umständlich und pedantisch das verlangte Geld hinblättern; in Wirklichkeit griff dieser, nachdem Heidi, die Bardame, den Preis der konsumierten Getränke genannt hatte, mit fahriger Bewegung in die Kitteltasche, um einige Münzen zwischen zerknüllten Geldscheinen zum Vorschein zu bringen; diese ganze Barschaft legte er wie ein kleines Kind, das noch nicht rechnen gelernt hat, auf die Theke, um das Zählen Heidi zu überlassen, die dieser Aufgabe beflissen nachkam. Eine der übriggebliebenen Noten schob er dann wie nebenbei – und auch ein wenig verschämt, wie Hofer schien – als grosszügiges Trinkgeld zu Heidi hin; das restliche Geld stopfte er zerstreut in die Kitteltasche zurück. Hofers oberflächliches Vorurteil über diesen Mann war damit zerstört. Der kleinbürgerliche Buchhalter (so etwa hatte er ihn vorerst spontan, aber wenig differenziert eingeschätzt) oder buchhalterische Kleinbürger zeigte beträchtliche Verwahrlosungserscheinungen. Schlapp und ausgebrannt, zu einer klärenden Verhaltensanalyse momentan unfähig fühlte sich Hofer, der einst Vorlesungen über Psychologie und Soziologie besucht hatte, ohne das Studium abzuschliessen, bevor er sich dem Journalismus hingab; statt psychologische Rätsel zu lösen sehnte er sich jetzt nach einem entspannenden Schaumbad bei sich zu Hause mit anschliessendem störungsfreiem Tiefschlaf. Doch der Kunde neben ihm hatte noch andere Überraschungen im Sinn. 
 
Nachdem er vom Barstuhl gerutscht war, den er sorgfältig und ein wenig linkisch zur Theke schob, verabschiedete er sich artig. Dabei musterte er Hofer kurz, und dieser sah ihm zum erstenmal an diesem Abend direkt ins Gesicht. Nun nahm er die Spaltung der Oberlippe wahr, ein Merkmal dieser Physiognomie, das Hofer nicht bemerkt, als er den Fremdling in der von Flaschen verstellten Spiegelwand hinter der Theke betrachtet hatte.
Der kleine Mann wollte sich offenbar schon dem Ausgang zuwenden, als er innehielt und den Journalisten wie verwundert ansah. Hatte ihn dessen Beobachtung gestört, fühlte er sich verletzt? Er beäugte Hofer nun aufmerksam, was diesen ebenso erstaunte wie verwirrte, denn er hielt den Fremden für einen eher schüchternen Menschen, und dieser sagte nun leise, aber bestimmt:
 
„Wir kennen uns, nicht wahr.“
 
„Nein“, murmelte Hofer ironisch, „woher denn?“
 
Er konnte sich gut vorstellen, woher, war er doch als Journalist gewissermassen eine öffentliche Person, und seit Jahren erschienen viele seiner Interviews, Reportagen und Kommentare (überflüssigerweise, wie er schon lange fand) mit seinem Porträtbild. 
Dass der Unbekannte nun seinen Namen nannte, schien seine Befürchtung zu bestätigen, und er antwortete arroganter, als er beabsichtigt hatte: „Sie sind wohl ein eifriger Zeitungsleser?“
„Das auch“, bestätigte der ungebetene Gesprächspartner gelassen; er schien Hofers mürrische Reserviertheit nicht wahrzunehmen oder ignorierte sie, weil sie nicht in sein Konzept passte; „ich habe deine Artikel von Anfang an mit Interesse verfolgt!“
 
Nun begann er ihn also noch ungefragt zu duzen; aus der Sicht eines wenn auch inzwischen etwas korrumpierten, ja vielleicht versnobten sogenannten Achtundsechzigers, für den viele, vor allem Nichtachtundsechziger, Hofer immer noch hielten, natürlich kein Faux-pas. Seit Ende der Sechzigerjahre hatten sich die Umgangsformen zumindest in gewissen Kreisen gelockert, aber der Mann (Hofer beharrte vorläufig darauf: ein Kleinbürger, wenngleich vielleicht ein angeknackster) sah nicht danach aus, als ob er vor Jahren Tramschienen besetzt oder Professoren mit schrillen Parolen erschreckt habe; Hofer konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich dieser Mensch auf dem Gelände, wo ein Atomkraftwerk hätte erbaut werden sollen, von Polizisten hätte wegtragen lassen. Der Barbesucher mit der enggeknüpften, gräulichen Krawatte wirkte auf Hofer nach wie vor ängstlich-konventionell, den Starken und Mächtigen Ehrfurcht und zumindest heimliche Bewunderung zollend (weiss der Teufel warum, die Krawatte allein konnte es doch kaum sein!).
 
Wahrscheinlich hatte dieser brave Mann einfach zuviel getrunken, dachte Hofer; das enthemmte ihn.
 
„Wir sind miteinander zur Schule gegangen, ins Gymnasium!“ verriet nun aber Klaus Stäubli – so hiess die Barbekanntschaft, wie Hofer sogleich erfuhr, nachdem er selber bisher keine Zeichen des Wiedererkennens hatte signalisieren können. Nebulöse Bilder stiegen in ihm auf. Dann und wann begegnete er beim Gang durch die Stadt oder an Pressekonferenzen den vertrauten und doch schon verzerrten Gesichtszügen ehemaliger Schulkameraden, die ihren privilegierten Bildungswegen entsprechend zu gesellschaftlichen Schlüsselfiguren mutiert waren, indem sie nun Machtpositionen in der Welt der Wirtschaft, der Politik, der Kultur einnahmen. Sie präsidierten Verwaltungsratssitzungen, erschienen überlebensgross als Regierungs- oder Nationalratskandidaten auf Plakatwänden, hielten Vorlesungen in der Universität oder veranstalteten internationale Ausstellungen oder Kongresse. Klaus Stäubli gehörte offensichtlich nicht zu dieser Elite; Hofer hatte Mühe, ihn zu identifizieren. Nur verschwommen erinnerte er sich schliesslich an einen kleinen, etwas verschupften Buben mit einer Hasenscharte in der ersten oder zweiten Gymnasialklasse, was seine bisherige Abwehrhaltung in gerührte Anteilnahme umschlagen liess. 
 
„Das müssen wir feiern!“ rief er aus, und er bat Stäubli, sich wieder auf den Barstuhl zu hissen, „ich kann mich jetzt tatsächlich entsinnen! Das war in der Unterstufe; nachher warst du nicht mehr in unserer Klasse?“
Seine Müdigkeit schien plötzlich verflogen.
 
Flugs hatte Heidi eine Flasche Weissen im Kühlbehälter und zwei frische Gläser hervorgezaubert, die sie behänd füllte. Hofer stiess sein Glas übermütig an Stäublis Glas („auf ein langes Leben!“), der aber setzte, nachdem er den ersten Schluck genehmigt hatte, eine eher grüblerische Miene auf.
 
„Ich verliess das Gymnasium nach der vierten Klasse“, berichtete er, „ich hatte schlechte Noten. Meine Mutter, die als alleinstehende Putzfrau kein grosses Einkommen hatte, fand es vernünftig, mich in eine Verwaltungslehre zu stecken. Noch während der Lehre starb meine Mutter an Krebs, und nach dem Lehrabschluss fand ich eine Anstellung im Grundbuchamt. Noch heute arbeite ich dort. Im Gegensatz zu dir bin ich nur eine ganz gewöhnliche Arbeitsbiene, eine winzige Ameise in einem riesigen Haufen, nicht wahr."
 
„Das bin ich doch auch!“ behauptete Hofer. „Jeder ist das letztlich...“
 
"Nein, nein“ protestierte Stäubli, „du gehörst zu den Prominenten. Die ganze Stadt kennt dich, weil dein Bild und dein Name fast täglich in der Zeitung erscheinen, nicht wahr. Du bist etwas Besonderes, kein gewöhnlicher Sterblicher. Du hast Privilegien. Und Macht! Deine Zeitungsartikel beeindrucken und beeinflussen Tausende von Menschen!“
 
„Nun gut“ lenkte Hofer ein, „gewisse Privilegien haben Journalisten schon, angefangen von den Einladungen zu Banketten bis zu den Gratisflügen. Den täglichen Umgang mit Prominenten, mit wirklichen Prominenten – nicht mit Journalistenkollegen – kann man natürlich auch als Privileg betrachten. Nur: wirtschaftlich profitiere ich nicht davon. Meine Honorare als freier Journalist werden, schätze ich, summa summarum kaum grösser sein als dein gesichertes Beamteneinkommen. Ich habe keine bezahlten Ferien etcetera. Ich hätte es anders haben können: meine feste Anstellung als Redaktor habe ich freiwillig aufgegeben. Als freier Journalist fühle ich mich unabhängiger; das Diktat der Verlegerinteressen und der Grossinserenten bekomme ich weniger direkt zu spüren. Im Grunde genommen bin ich ein
Bohemien. Ich lebe gewissermassen von der Hand in den Mund. Freiheit ist mir wichtiger als Sicherheit.“
 
„Bohemien zu sein ist auch eine Art Luxus, ein Privileg“ erwiderte Klaus, „besonders, wenn 
es mit soviel Prestige verbunden ist, nicht wahr.“
 
„Wie recht du hast“ beschwichtigte Hofer, „aber nicht jeder würde sich in meiner Haut wohlfühlen, stelle ich mir vor. Würdest du es?“
 
„Ich weiss nicht. Es ist für mich eigentlich unvorstellbar. Obwohl ich früher auch schöpferische Ambitionen hatte und von einem unabhängigen Leben träumte.“ Klaus schaute sich ängstlich um, als ob er sich vergewissern wollte, ob niemand anderer zuhöre, und  flüsterte: „Als junger Mensch wollte ich Kunstmaler werden. Ich habe eine ganze Reihe von Bildern gemalt, in meiner Freizeit.“
 
Hofer versuchte, sich Stäublis diskretem Ton anzupassen. „Also bist du ein getarnter Künstler? Hast du deine Bilder schon ausgestellt? In welcher Galerie?“
 
Klaus schien zu erröten (aber vielleicht bildete es sich Hofer nur ein. Vielleicht glühte das Gesicht wegen des Weinkonsums.)
„Nein“ sagte er, „nein. Das ist eine Geschichte für sich.“
„Erzähle!“ insistierte der Journalist.
 
Und nun erzählte der Sachbearbeiter aus dem Grundbuchamt eine dramatische Geschichte; Hofer kam aus dem Staunen nicht heraus. Stäubli berichtetete von einer Brandkatastrophe in einem stillgelegten Fabrikgebäude, wo er ein Atelier gemietet habe, um sich dort seiner leidenschaftlichen Freizeitbeschäftigung, dem Malen von Bildern, zu widmen. Ein Galerist, der ihn im Atelier besucht habe, sei begeistert gewesen und habe eine Ausstellung geplant; doch bevor es dazu gekommen sei, habe das Feuer die Bilder vernichtet.
 
„Das ist fatal!“ rief Hofer, „und du behauptest, du seist gewissermassen eine hundsgewöhnliche Ameise?! Ich kenne deine Gemälde zwar nicht. Aber was du mir da erzählst, ist aussergewöhnlich und tragisch! Ich hoffe, du malst trotzdem weiter, lässt dich vom Schicksal nicht kleinkriegen?“
 
„Ich kann nicht mehr malen!“ seufzte Stäubli. „Nachdem meine Bilder verbrannt sind, war ich wie gelähmt. Seither hat mich die Muse nie mehr geküsst. Das Feuer hat sie sozusagen verscheucht...“
 
Nach einer Weile bedrückten Sinnierens meinte Stäubli zu Hofer: „Du bist ein Schreiber, das ist dein Beruf. Es wäre schön, wenn du mir meine Geschichte aufschreiben könntest. Würdest du das für mich tun?“
 
„Ich bin kein Schriftsteller“ wehrte Hofer ab, „nur ein ziemlich beschäftigter und mittlerweile wohl auch etwas ausgelaugter Journalist. Obwohl mich deine Geschichte bewegt, weiss ich nicht, ob ich sie so schreiben könnte, wie es dir und deinem Schicksal angemessen wäre. Es würde vielleicht eine Art Reportage daraus.“
 
„Bitte“ bettelte Klaus, „mir zuliebe. Ich würde diese Arbeit bezahlen. Wieviel verlangst du? Zweihundert Franken, dreihundert? Mit meinem relativ bescheidenen Sacharbeiterlohn und den sozialen Verpflichtungen, die ich ja auch habe, sind mir leider Limiten gesetzt, nicht wahr. Dreihundert Franken? Ginge das?“
 
„Mich reizt die Aufgabe“ gab Hofer zu, „aber wenn schon, würde ich es für dich natürlich gratis schreiben. Vielleicht kann ich den Text gelegentlich ja irgendwo veröffentlichen. Dann würden wir das Honorar teilen, uns einen gemütlichen Saufabend leisten. Doch, ich möchte es versuchen. Aktuell ist der Stoff ja nicht gerade. Wann war dieser Brand?“ – „Vor achtzehn Jahren.“ – „Eben. Ein historisches Ereignis, kein aktuelles.“
 
Nun verstummte Klaus. Er starrte schweigend vor sich hin. Hofer hielt es für ratsam, den Abend zu beschliessen.
 
Als sie aus der Bar aufs Trottoir traten, glänzte der Asphalt vom Gewitter; die Nacht war angebrochen, und es war fast kühl, regnete aber nicht mehr. Sie vereinbarten, sich in einer Woche wieder hier zu treffen, und Hofer stellte in Aussicht, ein Typoskript mit der Geschichte über den Brand von Stäublis Bildern mitzubringen. Bevor sie in verschiedene Richtungen wankten, umarmten sie sich wie zwei alte Freunde.      
 
                                                                               *
 
Frivol flatterten entlang der Brücke bunte Fahnen zum Zeichen eines festlichen Ereignisses im ungetrübten Sonnenlicht, die Temperatur hatte dreissig Grad Celsius längst überschritten, und im Fluss trieb ein blendend weisses Schiff mit ausgelassen tanzenden Menschen in wehenden Schönwetterkleidern. Jauchzende Stimmen drangen ans Ufer. Zwischen dem Kellner, der Hofer das kühlende Getränk aufs gelbe Plastiktischchen stellte, und den sich im Boulevardbistro entspannenden Gästen wollte indes kein lockeres Gespräch entstehen. 
 
Hofers Vorhaben: Sich in hochsommerlicher, heiterer Atmosphäre in die herbstliche Seelenlage eines introvertierten Antihelden und Pechvogels zu vertiefen, seine Zufallsbegegnung mit Klaus Stäubli für die Darstellung von dessen Erzählung über das Ende der Laufbahn als Kunstmaler zu nützen. Welch` wahnwitzige Aufgabe! Sie versetzte den Journalisten in Aufregung und Abenteuerlust, in anfängerhaftes Lampenfieber, wie es ihn in den letzten Jahren seiner journalistischen Routinetätigkeit nie mehr erfasst hatte. Dabei war sein „Auftraggeber“ kein grimmiger Chefredaktor, sondern ein ohnmächtiges Büromännchen und Träumerchen, und es war kaum damit zu rechnen, dass der Text, den zu schreiben er ihm versprochen hatte, bei bedeutenden Lesern Beachtung finden würde. Von der fehlenden Aussicht auf eine finanzielle Entlöhnung ganz zu schweigen.
 
Zu seiner Überraschung machte es ihm allerdings keine Mühe, die Erzählung innert knapp einer halben Stunde wie aus einem Guss aufs Papier (genauer: auf die karierten Blätter eines Notizblocks mit grünem Umschlag) zu kritzeln. Er hatte das Präsens gewählt und stellte das Geschehen aus der Sicht der Hauptfigur dar, in der ersten Person. 
 
Nach einem Spaziergang dem Fluss entlang und anschliessendem Imbiss in einem anderen Boulevardrestaurant las er seinen Text noch einmal und begann sich mit der Idee zu quälen,          
sich als Autor nicht nur von der darzustellenden Hauptfigur, also sozusagen von Klaus Stäubli, distanzieren zu müssen, sondern auch zeitlich von der darzustellenden Geschichte. So begann er am selben Nachmittag einen zweiten Text zu verfassen, indem er nun das Imperfekt und für die Hauptfigur die dritte Person verwendete. Diese neue Variante überzeugte ihn auch noch drei Tage später, nachdem er sie nochmals mit dem ersten Text verglichen hatte, und deshalb tippte er sie einigermassen zufrieden in seinen Computer. Er speicherte sie und erstellte einen Abdruck, um ihn Stäubli abends in die Bar zu bringen.
 
Auf dem Weg dorthin las er seinen Text ein weiteres Mal, und er war auf einmal wieder unsicher, ob er Stäublis Erwartungen entspreche. Er meinte Unzulänglichkeiten zu entdecken, er erschien ihm stilistisch unheinheitlich, und er empfand das Bedürfnis, ihn neu zu konzipieren. Die erste Fassung, die er nicht in den Computer getippt hatte, schien ihm frischer, lebendiger. Er bedauerte, sie nicht ebenfalls abgeschrieben und ausgedruckt zu haben; er hätte sie Stäubli als Alternative vorlegen können. Solche Überlegungen waren jetzt freilich zu spät, denn in wenigen Minuten würde er die Bar betreten, wo sein Auftraggeber und wahrscheinlich einziger Leser sicher schon ungeduldig wartete, und er würde, ähnlich wie ein Aufsatzschreiber in der Schule der Note des Lehrers, seinem Urteil entgegenbangen... Die Absurdität seiner eingebildeten Ängste war ihm bewusst, und er beschloss, den komischen Aspekt seines selbstgewählten Risikos auszukosten. 
 
Als er das Lokal schliesslich betrat, konnte er Stäubli nicht sofort sehen. Dieser sass nicht wie das letzte Mal an der Bar, sondern hatte sich auf einer Holzbank in einer Nische an einem kleinen Tisch niedergelassen, ein gewissermassen geschützter Platz, den er für die vorgesehene Lektüre wohl für geeigneter hielt. Kaum hatte er den Journalisten erblickt, grüsste er mit einer diskreten Handbewegung und setzte sich sogleich eine Lesebrille auf die Nase, die er offenbar schon bereitgelegt hatte. Hofer liess sein Glas füllen und stiess gemächlich an, ohne vorerst auf Stäublis spürbare Ungeduld einzugehen. Um eine möglichst lockere Stimmung besorgt, plauderte der Journalist Minuten lang von Belanglosem, das er im Verlauf der letzten Tage während seiner Arbeit erlebt hatte. In Stäublis erwartungsvollen Miene schienen sich Züge der Enttäuschung, ja vorwurfsvoller Entbehrung abzuzeichnen.
 
Daher beeilte sich Hofer nun doch, sein Gegenüber nicht länger auf die Folter zu spannen. Er öffnete sein Ledertäschchen und zog den Computerausdruck hervor, den er ihm neben das Weinglas schob.
 
Stäublis Miene heiterte sich auf. „Du hast es also doch geschafft“, frohlockte er, „ich hatte ehrlich gesagt schon befürchtet, du wärst nicht dazugekommen, bei all deinem journalistischen Stress, nicht wahr!“
 
„Versprochen ist versprochen“, antwortete der Journalist und erhob sich, „Entschuldigung, ich muss mal pinkeln gehen.“ Er entfernte sich Richtung Pissoir, obwohl er keinen Harndrang verspürte, aber er suchte nach einer Gelegenheit, Klaus Stäubli ungestört lesen zu lassen. Er wollte nicht Zeuge seines etwaigen Stirnrunzelns oder verbalen Nörgelns während des Lesens sein. Allfällige Kritik sollte er anschliessend anbringen.
 
Hofer strebte also Richtung Abort- und Telefontüre, begrüsste unterwegs zwei Medienkollegen, die hier allabendlich sassen, wählte am CD-Automaten ein halbes Dutzend Stücke mit eher sanften Backgroundmusik, die, so dachte er, Stäubli beim Lesen milde stimmen könnten und verkroch sich während einiger Minuten hinter der ominösen Tür. Als er zurückkehrte, schien Stäubli den Text zu kennen.
 
Der Computerausdruck lag jedenfalls sorgfältig zusammengefaltet auf der Bank, Klaus Stäubli schaute unverschämt zufrieden, ja beinahe verklärt, und er hatte bereits eine neue Flasche Wein bestellt und serviert bekommen. Als ihn ein junges Paar fragte, ob zwei Plätze am Tisch frei seien, gab er redselig Auskunft; er sässe hier zusammen mit einem Bekannten, der sei gerade auf der Toilette, käme aber sicher bald zurück, sehr lange könne das kaum dauern.
 
„Nehmt nur Platz. Wir können zusammenrücken“, sagte Hofer munter. Die beiden neuen Gäste kuschelten sich hinter den Tisch. 
 
„Hat es dir gefallen?“ fragte Hofer überflüssigerweise und deutete auf das Papier auf der Bank. Stäubli nickte dankbar, setzte eine feierliche Miene auf.
 
„Oh, sehr! Ich bin beeindruckt. Hintergründig, um nicht zu sagen abgründig, ein wenig ironisch, aber nicht zynisch, eher melancholisch. Pfiffig, wie du die Pointe herausgearbeitet hast. Das ist für mich ein ganz wertvolles Geschenk! Wie schon gesagt, ich würde deine Arbeit gerne bezahlen. Darüber können wir ja noch einmal reden, nicht wahr. Mir gefällt die Geschichte.“
 
„Es ist deine Geschichte, du bist die Hauptfigur. Und gleichzeitig mein Auftraggeber“, ergänzte Hofer. „Auf ein Honorar verzichte ich, das weißt du, das haben wir doch schon besprochen. Könntest du sie mir nochmals geben? Ich möchte sie noch einmal lesen. Mit diesem fetten Lob im Ohr liest sie sich bestimmt anders!“
 
Er begann, sich (einmal mehr) auf seinen Text, auf Stäublis Geschichte zu konzentrieren.
 
Nach der Lektüre lehnte er sich entspannt zurück. Zum erstenmal hatte ihn der Aufsatz befriedigt. Es störte ihn nicht mehr, dass ihm beim Lesen Verbesserungen einfielen, brillantere Formulierungen, stilistische Möglichkeiten, den Text leichter wirken zu lassen. Ich habe ihm seine Geschichte, einen Ausschnitt seiner Geschichte geliefert, ihm zu einer Bedeutung verholfen, die ihm bisher in seiner ameisenhaften Büroexistenz (wie er es angedeutet hatte) offenbar gefehlt hat, dachte Hofer. 
 
„Nehmt ihr noch was?“ meldete sich nun Ursulina, die Serviererin (die eigentlich Germanistik studierte, wie Hofer wusste, und mit dem Job in der Bar ihr Studiengeld aufbesserte).
 
Klaus, in prächtiger Spendierlaune, bestellte die dritte Flasche Wein.
 
„Du hast mir zur Individualität verholfen“, behauptete nun Stäubli, „mir eine Identität geschenkt!“
 
„Übertreibe nicht“, wehrte Hofer ab, „du hattest doch schon vorher eine Identität! Während unserer ersten Begegnung hier hast du mir von deiner Mutter erzählt. Was ist mit deinem Vater?“
 
„Mein Vater kommt aus einer Patrizierfamilie, ein Aristokrat“, antwortete Stäubli; „ich war der uneheliche Sohn der Putzfrau dieser Familie. Mein Vater hat sich nie um mich gekümmert. Er war damals wohl noch zu jung, unreif, ein Pubertierender.“
 
„Und seine Familie?“ insistierte Hofer.
 
„Die Eltern meines Vaters ignorierten das Problem. Es war ihnen wahrscheinlich peinlich. Meine Mutter war natürlich keine standesgemässe Geliebte ihres Sprösslings! Aber vielleicht wusste man gar nicht, dass ich der Kegel ihres Sohnes war“, sinnierte Stäubli bitter.
 
„Sehr aristokratisch, ich meine edel verhielt sich dein Vater dir gegenüber also nicht gerade“, spöttelte Hofer.
 
„Auch nicht gegenüber meiner Mutter“, bekräftigte Stäubli; „mein Vater war kein Gentleman, er liess sie mit ihrem unehelichen Kind im Stich. Und täusch’ dich nicht! Die hiesigen Patrizierfamilien sind nicht gerade bekannt für Grosszügigkeit in solchen Dingen. Eher für Knausrigkeit. Und Diskretion. Über Geldprobleme redet man nicht. Man spricht auch nicht über uneheliche Kinder. Die existieren ganz einfach nicht.“
 
„Hast du später nie versucht, mit deinem Vater Kontakt aufzunehmen?“
 
„Ich weiss, wer er ist“, beteuerte Stäubli; „er heisst natürlich nicht Stäubli. Ich habe ihm erst jetzt einen Brief geschrieben, erst vorgestern, zum erstenmal; ich habe zufällig erfahren, er sei schwer krank. Er lebt jetzt in einem Sanatorium. Vielleicht gehe ich ihn dort einmal besuchen. Ich habe den Brief noch nicht abgeschickt. Aber ich werde es tun. Vielleicht schon morgen.“
 
„Vielleicht gibt es etwas zu erben für dich?“ schmunzelte Hofer.
 
Auf diese Anzüglichkeit verweigerte Stäubli eine Antwort. 
Er sah auf einmal unruhig auf die Uhr und verabschiedete sich plötzlich eilig und wortkarg.
 
Hofer war unsicher, wie er den abrupten Weggang seines Schulkameraden deuten sollte; hatte er ihn mit seiner unbedachten Bemerkung verstimmt? Wie passte dieser schroffe Abschied zu den vorher geäusserten überschwänglichen Dankesbekundungen?
 
Enttäuscht und aufgeschreckt interpretierte Hofer Stäublis unerwartetes Verhalten als alarmierenden Vertrauensbruch, und es drängte ihn nun ebenfalls, zu zahlen.
 
Nachdem er die Bar verlassen hatte, bemerkte er erstaunt, wie hell es draussen noch war. Der linde Sommerabend verlockte zum Spazieren; vor allem junge Menschen strömten in Gruppen über den Boulevard, und nur mit Mühe konnte Hofer Stäubli erkennen, wie dieser sich scheinbar ziellos durch die Menge wand, schliesslich den die Stadt teilenden Fluss überquerte, ohne die sich anbietende Aussicht auf den breiten Wasserstrom mit den aneinandergereihten mittelalterlichen Häusern am Ufer zu beachten, die in den aufsteigenden Schatten zu versinken schienen. Auf der Brücke hätte er ihn beinah’ aus den Augen verloren, da sich dem Journalisten ein ihm zufällig entgegenschreitender, von Parteikollegen umringter Grossrat in den Weg stellte, der mit ihm über eine in der Zeitung geäusserte Kritik, mit der der Politiker offenbar nicht einverstanden war, diskutieren wollte. Hofer konnte sich der Umzingelung mit dem glaubwürdigen Hinweis auf seine unaufschiebbare Eile entwinden, und es gelang ihm gerade noch, zu beobachten, wie Klaus Stäubli aus der Hauptverkehrsader in eine Seitengasse einbog, die in eine verwinkelte Altstadtgegend führte.
 
Der Glanz des Abendlichtes, der Hofer noch während des Gangs über die Brücke berauscht hatte, war in der engen Gasse vollständig erloschen, durch die Stäublis gedrungene Gestalt nun geisterte. Da war die Nacht schon hereingebrochen, und vor einem düsteren Haus sah man eine Ansammlung zumeist junger Männer und Frauen, darunter Jugendliche mit traurigen, bleichen Kindergesichtern, in verwahrlosten Kleidern. Klaus wich den Drogenkranken nicht aus, blieb, als er sich mitten unter ihnen befand, stehen, beugte sich zu einer auf dem Boden sitzenden jungen Frau nieder und sprach mit ihr. Hofer stand vor dem matt beleuchteten Schaufenster eines Trödlerladens und beobachtete den für ihn immer noch rätselhaften Vorgang aus einiger Distanz. Klaus beachtete ihn nicht. Schliesslich sah er, wie Stäubli mit der linken Hand übers Haar der Drogensüchtigen strich, sich aufrichtete und seinen Gang fortsetzte. Er taumelte nun durch eine noch engere Gasse zum Uferweg hinunter. Dort liess er sich auf einer der Bänke nieder, wo tagsüber bei schönem Wetter manchmal Rentner und Liebespaare sassen, und er schien nun unverwandt auf den inzwischen eingedunkelten Strom zu starren.
 
Hofer überlegte, ob er sich zu ihm gesellen sollte, um die Gelegenheit zu nützen, den so seltsam unterbrochenen Kontakt wieder aufzunehmen. Er näherte sich ihm von hinten, in der Absicht, ihn vorsichtig anzusprechen; aber nun hörte er zu seiner Überraschung, dass Stäubli weinte. Es schien ihm angemessener, ihn in seiner Einsamkeit doch nicht zu stören; behutsam wich er zurück, dabei hörte er, wie das Schluchzen verstummte. Nun beobachtete er, dass sich Stäubli erhob, zielstrebig zur Treppe ging, lautlos wie ein Gespenst hinunterstieg und ohne zu zögern ins Wasser plumpste; nur ein kurzes Glucksen war zu vernehmen. Hofer begriff, dass er Zeuge eines Selbstmords wurde: sein Schulkamerad ertränkte sich! Noch erspähte er eine kurze Weile den Kopf im Wasser, bis auch der ganz untertauchte, einfach verschwand. Stäublis Existenz, von Hofer sorgsam registriert, war ausgelöscht – die wiedergefundene Identität zerstört. 
 
Ungläubig starrte Hofer auf den dunklen Strom, dessen Oberfläche die Abendlichter reflektierte. Hierauf ging er energisch, beinahe zornig dem Ufer entlang unter den Brücken vorbei und begann eine lange stumme Wanderung durch die Nacht.