Die Traumgeliebte
Von Felix Feigenwinter
Sengende Hitze lag über der Stadt. Norbert hatte den Sonntagnachmittag im Schwimmbad verbracht und stundenlang eine Wolke beobachtet, die sich träge über den Kaminen und Türmen ausbreitete. Ein Gewitter war zu erwarten, blieb aber aus. Der Abend war drückend; die Leute irrten wie fiebernd auf den Strassen und Plätzen umher.
Norbert führte seine Frau in einen öffentlichen Garten, wo sich Musiker zu einem Platzkonzert rüsteten. Die Melodien vermischten sich, mehr als sonst, mit dem Zirpen der Grillen und dem Jaulen der Vögel, und über dem Platz wehte der schmerzliche Duft von Blumen.
Er saß mit übergeschlagenen Beinen auf der anderen Seite des Platzes, braungebrannt und mit entblößter Brust, wie er eben war. Norbert hatte ihn wegen der Sonnenbrille nicht sofort erkannt, aber der Gruß: eine lässige Handbewegung mit Fingerknallen, war unverkennbar. "Wer ist das?" fragte Norberts Frau, gierig auf neue Bekanntschaften und ständig versucht, Norberts voreheliches Leben zu ergründen. "Ein alter Freund", sagte Norbert leichthin und lenkte ab, doch die Frau langte zwei Stühle herbei und meinte: "Ruf ihn doch hierher, dann können wir plaudern." - Norbert wehrte ab: "Siehst du nicht, dass er nicht allein ist?" Aber Xaver hatte die Bemühungen von Norberts Frau bemerkt und überquerte mit seiner Begleiterin auch schon den Platz.
Der Abend wälzte sich dahin. Norberts Frau wunderte sich über das seltsame Verhalten ihres Mannes und den schnellen Abschied nach dem Konzert. "Das war ein alter Freund, sagtest du?" forschte sie zu Hause, aber Norbert drehte sich gegen die Wand und horchte auf den Regen, der draußen niederprasselte; das Gewitter war doch noch gekommen.
*
Norbert und Xaver kamen auf ihrer Ferienreise durch Skandinavien an jenem Abend, an den Norbert jetzt dachte, von Norden her nach Turku, der finnischen Hafenstadt. Sie hatten den ganzen Tag in der Eisenbahn gesessen und waren müde; trotzdem beschlossen sie, nach Stockholm weiterzureisen. Das Schiff hieß "Wellamo". Sie ruhten auf Deck in Liegestühlen und berauschten sich an den im Mondschein zögernd vorbeiziehenden Inseln und dem nächtlichen Spiel der Lichter. Sie lehnte im Schatten eines Rettungsbootes und schaute zum Tanzplatz. Ihr goldenes Haar wehte im Wind; ihre Augen und ihre Rockknöpfe schimmerten perlmuttern. Norbert stand auf, nicht zu hastig, und ging zu ihr hin. Der Freund schnarchte im Liegestuhl.
Der Tanzplatz war klein, mit Lampions überhangen, und aus den Lautsprechern des Schiffes schluchzten ungarische Weisen; vielleicht, dass der Kapitän Ungare war. Die Tanzenden wurden zusehends beschwingter und hitziger, und Norbert sank schließlich mit dem Mädchen betört in einen Liegestuhl.
Er fror, als er erwachte, denn der Morgenwind blies frostig über Deck. Sybill war verschwunden. Schlaftrunken torkelte er an Liebespaaren vorbei, die in Wolldecken schliefen. Er stellte seine Uhr eine Stunde nach; in wenigen Minuten würde das Schiff im Hafen von Stockholm einfahren, dort galt die in Finnland gebräuchliche osteuropäische Zeit nicht mehr. Auf der Treppe, die zum Unterdeck führte, traf er sie, Sybill und Xaver. Entrüstet wandte er sich gegen seinen Freund; aber Sybills Augen, die er diese Nacht geküsst, blickten fremd. Nun wusste Norbert, dass er die ganze Nacht schlafend im Liegestuhl verbracht und sein Freund das Mädchen zum Tanz geführt hatte. Alles war nur ein Traum gewesen!
*
"Schläfst du schon?", fragte Norberts Frau. - "Es war Sybill", antwortete Norbert. - "Wovon sprichst du?" misstraute die Frau, "von der Kleinen, die dein Freund bei sich hatte?" - "Ja, es war Sybill", wiederholte Norbert. - "Er nannte sie aber Agnes", widersprach die Frau. - "Möglich, durchaus sogar", meinte Norbert, "aber im Traum hieß sie Sybill." Norberts Frau seufzte vor sich hin und hüllte sich in Schweigen; was hätte sie schon sagen sollen?
Die erste Fassung dieser Geschichte wurde schon in den Fünfzigerjahren geschrieben; sie erschien damals in der Liestaler Lokalzeitung "Landschäftler". Eine veränderte Fassung wurde 1963 unter dem Titel "Ein Traum" im Sonntagsblatt der "Basler Nachrichten" veröffentlicht.