Katastrophennacht
Von Felix Feigenwinter
Manchmal hallte sein Lachen durch die Nacht. Es brach aus seinem Schlafzimmer, das durchs Wohnzimmer von dem ihren getrennt war, durchs offene Fenster, und dann drang es von draussen durchs Fenster ihrer eigenen Kammer. Das war nur in der warmen Jahreszeit möglich, während linden Frühlings- oder schwülen Sommernächten, und manchmal auch an Herbstabenden, wenn der Föhn die Stadt bedrückte. Eigentlich war es kein richtiges Lachen, eher ein heiseres Bellen. Es löste sich aus einem unbestimmten nächtlichen Dröhnen, und zuweilen war es kaum unterscheidbar vom durchdringenden Heulen aus irgendwelchen fremden Wohnungen oder vom Jaulen der Katzen, die durch die Vorgärten streunten. Nein, Brunos Lachen war alles andere als heiter; aber zunehmend schien ihr, als ob es seine einzige Aeusserung sei, die sie nach fünfundzwanzigjähriger Ehe noch berühre.
Tagsüber war Bruno in einem Büro stationiert, das sich in einer Holzbaracke auf dem Gelände eines Güterbahnhofs am Rande der Stadt befand. Dort erledigte er Schreibarbeiten, füllte sachkundig Formulare aus; zwischendurch streunte er durch die zügigen Hallen des Güterbahnhofs, wo er Transportgüter aufspürte, die er für die Zollabfertigung bereitzuhalten hatte. Manchmal, auch wenn die Sonne brannte, es regnete oder schneite, ging er draussen durch die weiten Geleiseanlagen entlang den Güterzügen. Während den Arbeitspausen sass er in der Holzbaracke mit Berufskollegen zusammen, ass dicke Schinkenbrote und Essiggurken und trank Bier oder Wein. Es wurde viel Bier und Wein getrunken in der Baracke; es hiess, die Baräckler seien Alkoholiker.
Zu jener Nachtstunde lag Gisela noch nicht im Bett. Wie stets, nachdem sie abends in einem Restaurant in der Innenstadt gearbeitet hatte, benützte sie den letzten Bus, den sogenannten Lumpensammler, der späte Heimkehrer in die Aussenquartiere brachte. Wäre sie zuhause gewesen, hätte sie das Lachen kaum erreicht, denn es war Herbst; ein kühler, nasser Wind durchwehte die Stadt. Ihr Schlafzimmerfenster war geschlossen, und es wäre es bestimmt auch gewesen, wenn sie den Abend daheim verbracht hätte.
Das Lachen entwich dem einzigen offenen Fenster des Hauses, dessen Fassade im Schein der Strassenbeleuchtung an eine Theaterkulisse gemahnte. Vor ihr tauchte die schwankende Gestalt eines Betrunkenen auf. Sie erkannte Hansjörg Stöckli, einen Alkoholkranken, der im Nachbarhaus zusammen mit seiner betagten Mutter hauste. Einen Augenblick lang erwog sie, weiterzugehen, zu einem ziellosen Spaziergang durch nächtliche Vorstädte aufzubrechen, bis der Morgendämmer sie einholen würde und aufstrahlendes Sonnenlicht das Zuhause versöhnlicher erscheinen liesse. Aber die Kälte der Herbstnacht durchsickerte ihre Kleider und griff nach ihren Eingeweiden. Eines Morgens hatte sie Hansjörg Stöckli im kleinen Vorgarten gesehen, wo er in einem Strauch lag, in den er gekippt war; hilflos umarmte er einen zerzausten Rosenstrauss, den er offenbar in einem Blumenladen gekauft hatte. Sie half dem Sternhagelvollen auf die Beine und führte ihn zur Wohnungstür, wo ihn die Mutter in Empfang nahm; die alte Frau bedankte sich bei Gisela und entschuldigte sich für ihren Sohn; sie habe heute Geburtstag, erklärte sie, und sie versuchte, den arg zerfledderten Blumenstrauss zu ordnen. Jetzt, um Mitternacht, schien Stöckli Gisela nicht zu erkennen. Als sie sich ihm näherte, knöpfte er die Hose auf und begann, enthemmt, wie er war, auf die Strasse zu pinkeln. Mit einem Sprung zur Seite verhinderte sie, vom Urinstrahl gestroffen zu werden. Nun war sie nicht mehr bereit, sich um die tragische Figur zu kümmern.
Vorsichtig öffnete sie die Haustür. Sie drückte auf den rot leuchtenden Knopf, und sie stieg fast lautlos durchs matt beleuchtete Treppenhaus. Sie schlich in die Wohnung, vorbei am Kakteenfensterbeet, das Bruno einst eingerichtet hatte und das er immer noch regelmässig begoss. Durch den Türspalt erspähte sie die Dunkelheit, wo er sich versteckt hielt. Vorher, als sie auf der Strasse gegangen war, hatte Licht aus der Kammer geschienen. Vielleicht hatte Bruno im Bett gelesen und ihre Heimkehr bemerkt; jetzt stellte er sich schlafend. Leise schaudernd ging sie weiter, vorbei am unbewohnten Kinderzimmer, dessen Türfalle sie sachte berührte, eine Gewohnheit, die ein verständnisloser Beobachter vielleicht als Verschrobenheit gedeutet hätte. (Bruno war diese Eigenart vertraut; er hatte sie zum erstenmal nach dem Auszug des Kindes aus der Wohnung wahrgenommen, und es hätte ihn beunruhigt, wenn Gisela eines Tages darauf verzichtet hätte.) Im Wohnzimmer öffnete sie die angelehnte Tür ihres eigenen Schlafgemachs. Sie stellte die Handtasche auf die Kommode und begann, die Kleider auszuziehen. Sie streifte das Nachthemd über, ging nochmals durchs Wohnzimmer ins Vestibül und durch die Küche zur Toilette; danach blieb sie in der Küche. Bestrahlt vom Neonlicht am Klapptisch sitzend, verschlang sie eine Bratwurst, die sie wie abwesend aus dem Kühlschrank geholt hatte, ohne die Holzschüssel mit dem Kartoffel- und Tomatensalat zu beachten, die daneben bereitstand.
Kurz darauf durchstreifte Bruno mit einem Pyjama bekleidet die Küche, um die Toilette zu erreichen. Wortlos wie ein Gespenst verschwand er, und Gisela betrachtete das zerfledderte Spinngewebe, das über dem geschlossenen Küchenfenster von einem rätselhaften Luftzug unaufhörlich leise durchweht wurde und an die sonst nackte Decke zitternde Schatten warf. Bruno kehrte zurück und blieb vor Gisela stehen. Nun starrte er auf den kahlen Teller, wo die Wurst gelegen hatte, und seine vorwurfsvollen Worte, die er deutlich auszusprechen versuchte, vermischten sich mit dem Rauschen sprudelnden Klowassers:
"Du hast die Wurst kalt gegessen, ohne Senf und Brot. Und den Salat hast du stehengelassen; die Kartoffeln und die Tomaten würden dir gut tun!"
Der Mann wirkte zerzaust, sein Gesicht war schattenbehangen, das Haar türmte sich zu einer wilden, wirren Mähne. Seine Alkoholfahne hätte Gisela überprüfen können, indem sie auf ihn zugegangen wäre und sich hätte küssen lassen; aber sie verzichtete darauf.
Als sie sich vor über fünfundzwanzig Jahren kennenlernten, spielte Bruno hauptberuflich Saxophon. Er war ein leidenschaftlicher, kein ausgebildeter Musiker. Mit seiner Band trat er an Hochzeiten, an Firmenanlässen und an Volksfesten auf, und dreinmal wöchentlich spielte er in einem eher obskuren Nachtlokal, wo kein gediegenes Publikum verkehrte, wie sich Gisela erinnerte; vor allem Betrunkene hatten sich an Brunos Musik ergötzt. So war Gisela erleichtert, als er nach der Geburt der Tochter das Lotterleben als freischaffender Musikant mit einer Anstellung bei einer internationalen Transportfirma eintauschte; Brunos Eltern hatten auf dem Abschluss einer Berufsausbildung bestanden, und sie schienen beruhigt, ihren Sohn nun im Schosse eines etablierten Arbeitgebers beschäftigt zu wissen; "jetzt hast du eine gesicherte Existenz!", hatte der Vater frohlockt. Dem desavouierten Musiker entging indes keine Gelegenheit, zu beteuern, wie sehr er es hasse, ein Leben im Schraubstock führen zu müssen, wie er es nannte. Als Angestellter würde er langsam, aber sicher zum seelischen Krüppel, klagte er Jahre lang. Nachdem er auf dem Flohmarkt, gewissermassen demonstrativ, seine beiden Saxophone verschachert hatte, verfiel er immer mehr trotziger Eigenbrötelei.
"Du siehst schlecht aus", bemerkte Gisela nun mit kühler, sachlicher Stimme, und sie hätte noch beifügen können: "Du bist ein armer Tropf!", aber das hätte sie übertrieben gefunden.
Ohne seine absurde Nörgelei zu zerstreuen, verzog sich Bruno, mit der linken Hand unkontrolliert im Haar kratzend, und sie hörte, wie er seine Schlafzimmertür hinter sich schloss.
Gisela erhob sich. Sie zündete eine Zigarette an, die sie genoss, während sie in der Küche hin- und herging. Später öffnete sie das Küchenfenster. Dort verharrte sie minutenlang. Durchs spärlich belaubte Baumgeäst erblickte sie am Rand der Hintergärten die Mauern von Nachbarhäusern; einige Fensterscheiben schimmerten. Eine Maueröffnung gab den Blick in eine gelb erleuchtete Kammer frei; zwei Gestalten umarmten sich reglos. Durch ein anderes Fenster leuchtete rotes Licht.
Nachdem sie ihr Schlafzimmer aufgesucht und sich ins Bett gelegt hatte, versank sie widerstandslos in Traumbildern, aber bald wurde sie durch schrilles Läuten geweckt. Sie angelte den Telefonhörer ans Ohr; es meldete sich Käthi. Das Gespräch dauerte kurz. Gisela hastete zu Brunos Schlafzimmertür, wo sie klopfte, polterte und rief, bis von innen geöffnet wurde. Infernalischer Gestank verschlug ihr den Atem; dicke, schweflige Luft ergoss sich durchs offene Fenster in die Schlafkammer, erfüllte diese schon restlos.
"Bist du bei Trost?!" schrie Gisela; "Käthi hat angerufen. Ein Chemieunfall! Die chemische Fabrik brennt! Und dein Fenster steht sperrangelweit offen!"
"Ich weiss", lallte Bruno schläfrig, und er tappte zum Fenster, um es zu schliessen, "ich habe die Sirenen gehört... Wir werden vergiftet."
"Komm raus aus diesem Gestank!", rief Gisela und drängte den Mann, die Türe hurtig zuzumachen. Durchs Vestibül schob sie ihn ins Wohnzimmer, und von dort zog sie ihn in ihre Kammer. "Hier stinkt es nicht so entsetzlich. Stell den Transistor an! Käthi hat gesagt, am Radio bringen sie ständig die neuesten Katastrophennachrichten."
So lauerten sie eng umschlungen in Giselas Bett, zwei verschüchterte Kreaturen, an die Grenzen ihres Daseins gedrängt. Erst, als der Morgen dämmerte, als die Angst allmählich wich, lösten sie sich aus der Umklammerung, misstrauisch durchs geschlossene Fensterglas in den nur fahl beleuchteten Garten spähend, wo ein verstörter Krähenschwarm einflatterte, sich auf den Baumgerippen versammelte; die belegte Stimme des Radiosprechers hatte soeben "Endalarm" verkündet.
"Wir scheinen noch einmal überlebt zu haben", meinte Gisela, nachdem sie aus dem Bett gekrochen war. Sie versuchte, Käthi anzurufen, aber die Linie war besetzt. Unruhig begab sie sich in die Küche, wo sie begann, eine Kochkanne mit Wasser zu füllen.
Bruno schreckte aus seiner Versunkenheit. Er griff nach dem Telefonhörer, und aus einer Musikwolke vernahm er die Stimme seiner Tochter.
"Käthi!" rief er gerührt, "seid ihr wohlauf?"
Bruno holte tief Atem, und plötzlich begann er zu kichern. Es war ein schütteres Lachen, aber in keiner Weise tönte es so finster wie in der Nacht.
"Ich rufe Mama, sie ist in der Küche", sagte er. Versonnen wandte er sich um, und da sah er, dass Gisela bereits im Zimmer stand. Im hereinsickernden Morgenlicht erschien ihr Gesicht bleich und zart.
"Das Frühstück", fragte Bruno, "soll ich es holen?"
"Ich weiss nicht", zögerte Gisela, "das Teewasser. Es schmeckt so seltsam."
Sie nahm ihm den Telefonhörer aus der Hand, um mit der Tochter zu reden. Als er zum Fenster hinaussah, entdeckte er auf der Fernsehantenne eines Nachbarhauses zwei Krähen, die ihn durch die Scheibe zu beobachten schienen.
Bruno hob die Hand wie zum Gruss. Er löste sich von Gisela und begann zu tänzeln. Zärtlich, verzückt bewegte er sich durchs Zimmer. Freude wuchs in ihm, und er spürte, wie die Schwingungen Kreise zogen.
Als er innehielt und erneut zum Dach des Nachbarhauses spähte, suchte eine der Krähen über den Giebeln das Weite. Die andere drehte sich flügelschlagend tänzelnd auf der Antenne, bis auch sie sich abhob und sich heiser rufend in den verhangenen Himmel schwang.
Eine halbe Stunde später verliessen Bruno und Gisela die Wohnung, traten zusammen in den düsteren Herbstmorgen. Vor dem Haus standen zwei Sanitätsauto. In einen dieser Wagen wurde eine Bahre getragen, auf der Frau Stöckli lag, Hansjörgs Mutter. Sie sei in der Nacht gestorben, sagte der Nachbar, der den betrunkenen Sohn zum anderen Auto führte.