Das Gespenst
Von Felix Feigenwinter
Der Vorsteher Fridolin Knoll schreitet zum Fenster, öffnet es gewissenhaft, beugt sich über das Gesims, schnuppert forschend, tritt vom Fenster zurück, breitet die Arme aus und verkündet mit ergriffener Stimme: "Der Frühling hält seinen knospenden Einzug." Das Büro erstarrt ob solchen Worten, die Beamten blicken verzerrt und verzückt auf den knospenden Strauch vor dem Fenster, der mutigste wagt eine beipflichtende Bemerkung. Die dienstälteste Sachbearbeiterin eilt zum Fenster und schliesst es beflissen und sachte, worauf sich Herr Knoll würdig entfernt, sich vorher aber noch scheinbar prüfend über ein herumliegendes Dossier beugt. Hätte man ihn gefragt, was er im Dossier gelesen habe, er hätte es, so wird seit langem vermutet, nicht zu erklären gewusst. Seine Bewegungen ähneln den salbungsvollen Verbeugungen der Priester in den Hochämtern mit Segen.
Fräulein Wunderlich hat Herrn Knolls Frühlings-Zeremonie verstohlen vom Computertisch aus verfolgt. Sie leidet unter Magenklemmen. Da sie aber noch keinen Brechreiz verspürt, harrt sie am Bildschirm aus.
Was sie seit langem befürchtete, ist eingetroffen: Ein Gespenst hat sie besucht. Vorletzte Woche begegnete es ihr auf dem Heimweg, im Abenddämmer, und seither folgt es ihr Tag für Tag. Es wartet im Bürovorraum und kommt mit ihr nach Hause. Nachts setzt es sich auf ihre Brust und schleicht sich in ihre Träume ein.
Manchmal vergisst sie es während der Arbeit. Dann glaubt sie, es sei ein Traumgespenst. Zwischen dem Tastengeplapper hört sie sein Schnalzen durch die Empfangshalle, dann riecht sie es und hat das Gefühl, es laure hinter einer Ritze der Bürotür, luge durch die Glasscheibe des Publikumsschalters.
Fräulein Wunderlich hämmert wie wild auf die Computertasten. Ihre Kollegen sehen sie prüfend, fast scheu an; sie legen ihre Arbeit für einen Augenblick zur Seite, spähen nachdenklich durch die Fensterscheiben, auf die Vögel, die auf dem Strauch sitzen. Noch niemand hat ihr einen Vorwurf gemacht, aber sie empfindet die Blicke.
Der Vorsteher, Herr Knoll, lächelt verlegen; er sprach davon, sich vielleicht frühzeitig pensionieren zu lassen.
Erstmals erschienen in der Literaturzeitschrift Poesie, Heft 2, 1985