Wer füttert die Vögel in Bern? 

Von Felix Feigenwinter

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Welche Komplikationen ein Wohnungswechsel guter Freunde doch auslösen kann! Vor allem, wenn er mit einem Ortswechsel von Basel nach Bern verbunden ist. Welche unerwartete Dimensionen sich da eröffnen - bis hinauf in die  hohe Politik!...

Der Umzug eines mir  schon seit Jahren vertrauten einstigen Studentenpaars vom Rheinknie an das nicht minder kurvenreiche Aare-Ufer wirkte sich jedenfalls auf eine meiner Lebensgewohnheiten gravierend aus. Irgendwann in den Neunzigerjahren hatte ich das Ehrenamt übernommen, während der Wochenend- und Ferienabwesenheit meiner jungen Freunde deren Haustiere zu füttern und zu betreuen. Das liest sich vielleicht dramatischer, als es in Wirklichkeit ist. Denn bei besagten Haustieren handelt es sich nicht um grosse Hunde  oder andere fleischfressende und spazierfreudige stattliche Kreaturen, sondern um ein winziges, braves, vegetarisches Finkenpaar tropischer Herkunft. Da es einen geräumigen und von den Tierhaltern sorgfältig und vorbildlich gepflegten Käfig bewohnt, ist die Pflege unproblematisch; sie beschränkt sich vor allem auf das Bereitstellen geeigneter Körner, knackiger Salatblätter, frischer Apfelschnitze und Gurkenscheiben nebst dem täglichen Auswechseln des Trinkwassers. Bei längerer Ferienabwesenheit meiner Bekannten habe ich selbstverständlich auch den Käfig gereinigt, aber auch das gedieh mit den Jahren zur  Routine, zur geradezu idealen Beschäftigung für einen Oldie wie mich.  Doch die Lebensplanung unternehmungslustiger junger Leute deckt sich eben nicht immer mit den lieb gewonnenen Gewohnheiten und gemütlich gehätschelten Zukunftsvorstellungen eines angehenden Rentners...

Meine bange Frage: Wer füttert in Zukunft die Vögel? schien meine Freunde nicht besonders zu beunruhigen. "Unsere Wohnung befindet sich in einem Mehrfamilienhaus gleich hinter dem Bundeshaus. Da gibt es doch sicher nette Nachbarn, die uns behilflich sind!" zerstreuten sie meine Bedenken.

Das aus meinem idyllischen Basler Wohnquartier in die Bundeshauptstadt  entschwundene Paar schien also zuversichtlich, meine jahrelangen Dienste problemlos ersetzen zu können! Dann, mitten im Monat Januar 2004, erhielt ich Post aus Bern. Das Couvert enthielt neben einer schönen Neujahrskarte das offizielle grosse und farbige Gruppenbild mit dem neu zusammengesetzten Bundesrat (samt der Bundeskanzlerin). Auf dieser Foto klebte ein rosa Notizpapier mit dem Hinweis in einer mir vertrauten Handschrift: Hier noch ein Gruppenbild unserer neuen Nachbarn... Natürlich begann ich, jede dieser Persönlichkeiten sofort genau unter die Lupe zu nehmen. Danach setzte ich mich an den Computer und schrieb meinen beiden sich ins Schatten des Bundeshauses verzogenen Freunde nach Bern den folgenden Warnbrief (aus zugegeben höchst subjektiver Sicht):  

Meine Lieben! Wirklich eindrücklich, dieses Gruppenbild Eurer neuen Nachbarn! Also denen möchtet Ihr in Zukunft Eure Vögel anvertrauen?

Bevor Ihr solches in die Wege leitet, erfahrt bitte meine Bedenken! Am ehesten würde ich noch den beiden schweizerisch-patriotisch (rot und weiss) bekleideten Damen zutrauen, die mir vertraute Aufgabe mit der erforderlichen Einfühlsamkeit und Umsicht zu Eurer und Eurer Vögel Zufriedenheit zu bewältigen. Aber die eine - im weissen Hosenanzug - ist doch wohl zu wenig abkömmlich, weil ständig auf Auslandsreisen, und die andere - im attraktiven roten Deuxpièces - verwechselt, so befürchte ich, mit ihrem zwar intelligenten, doch naturgemäss zweideutigen Schielblick den Wasserbehälter mit dem Körner-Fressnapf. Der Herr links aussen blickt zwar schwärmerisch-intensiv in die Linse, aber ist er auch zuverlässig? Dass er seinen Kopf mit drei Fingern abstützt, wirkt auf mich verdächtig, ja unheilvoll. Auch dem Herrn rechts aussen vermag ich nicht so recht über den Weg zu trauen, erinnert er mich doch - wohlverstanden rein äusserlich - an einen sizilianischen Paten aus einem Film, den ich vor Jahrzehnten gesehen habe. Vielleicht ist er in einen Vogelhandel verstrickt? Der hämisch grinsende ältere Mann neben ihm (über der Dame in Rot) findet wahrscheinlich ohnehin, die Ausgaben für das Vogelfutter seien eine überflüssige Sozialleistung, und er lässt die Vögel - weil er ihnen selbstverantwortliches Handeln zumutet - durchs offene Fenster ins Aaretal flattern, ungeachtet der Winterkälte und all der anderen Lebensgefahren, die hier auf die tropischen Tierchen lauern, sogar den Mangel an geeignetem Futter ignorierend. Den Mann mit dem Schnurrbart halte ich ebenfalls für ungeeignet, Euren Futterdienst liebevoll und sachgemäss durchzuführen. Mit seinem militärisch-forschen Auftreten wird er das Vogelpaar einschüchtern, und seinen hemdsärmeligen Befehlen: Fressen!, Saufen! etc. wird es kaum Folge leisten. Zudem könnte dieser Herr aus Spargründen (um das Armee-Budget zu entlasten) dem Wahn verfallen, Eure Schätzchen für die Armee als Brieftauben-Ersatz missbrauchen zu lassen, da Finken weniger fressen als Tauben. Mangelnde Sensibilität und feinmotorisches Ungenügen vermute ich übrigens auch beim bebrillten Riesen im Hintergrund, dem jegliche Eignung, kleine, schreckhafte gefiederte Freunde zu betreuen, abzugehen scheint. Ob dazu wenigstens der verbleibende Nachbar fähig wäre? Auch da beschleichen mich erhebliche Zweifel. Als eher trockener Mensch, der vermutlich selber wenig trinkt, würde er die ihm Anvertrauten vielleicht verdursten lassen, und sparsam, wie auch er ist, einen Teil der Körner möglicherweise gar selber aufpicken.

Also, meine Lieben, überlegt Euch bitte gut, ob Ihr das Wohl Eurer Vögel in Zukunft wirklich Euren neuen Nachbarn anvertrauen möchtet!

 

Mit sorgenvollen Grüssen Euer nachdenklicher Freund aus Basel.

 

(Diese Satire in persönlicher und dennoch nicht nur privater Angelegenheit wurde im Jahr 2004 geschrieben.)